Die Schönheiten von Pyrmont

Die Schönheiten von Pyrmont von Goedden,  Walter, Mehring,  Melanie, Thenior,  Ralf
VORWORT Lyriker darf man nicht von der Leine lassen. Gleich wollen sie alles ganz genau wissen. Tradition und so weiter. Fragen sich durch. Die Donopin? Keine Ahnung, klingt’s aus aller Munde. Gedichtet, die? 18. Jahrhundert? So lange her. Muss man die noch kennen? Man muss nicht, man sollte aber. Nimmt man sich die Muße und schenkt dem Text „Die Schönheiten von Pyrmont / besungen von Charlotten Wilhelminen Amalien von Donop“ (1750) die gebührende Aufmerksamkeit, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Aber man muss ihn erstmal nachlesen können. Ein Freund half Ralf Thenior, der sich auf die Suche begeben hatte, aus der Patsche. Fand den gesuchten Band als Digitalisat im Internet. Und Ralf Thenior? Der entfachte Funke wuchs sich immer mehr zum Flächenbrand aus. Wir rechnen nach: Mindestens fünf Jahre lang, vom ersten Blind Date bis zum Abschluss des Manuskripts, ließ ihn die Donopin nicht aus den Fängen. Eine Liebesgeschichte ganz eigener Art, wie sie wohl nur im Buche stehen kann. Ralf Thenior hat daraus ein wunderbares Buch gemacht. Es lässt nichts aus. Die Etappen seiner Recherche, die Verbindungsfäden zur eigenen Biografie, die eigene Krankengeschichte, die ihn nach Bad Pyrmont führte (ein Zufall? Wir wollen und können es nicht glauben), das botanische Interesse des Autors, seine vergeblichen Nachfragen vor Ort nach dem adligen Fräulein aus dem 18. Jahrhundert. Und natürlich das Literarische: Thenior glich Eigenes mit dem 270 Jahre alten Text ab, entdeckte Gemeinsames neben unüberbrückbaren Differenzen. Auch Ornithologisches floss ein, ausgelöst durch die geläufige Titulierung von Donops (1723–1800) als „Westphälische Nachtigall“. Beim Autor rief das Erinnerungen an den wohltönenden Gesang einer realen Nachtigall wach, der seinem eigenen Leben plötzlich einen besonderen Dreh bescherte und den Autor von einem auf den anderen Augenblick von privaten Sorgen befreite (fortan hieß es: Raus aus dem persönlichen Schlamassel, den Blick nach vorn gerichtet!). Gewidmet hat er sein Buch „allen Nachtigallenschlägen der Weltliteratur“. So ist denn ein halb philologisches und halb persönliches Buch entstanden. Wobei die kurzweilige Mixtur auch den Nachdruck des Donop’schen Originaltexts mit einschließt. Bei seinem – mit den notwendigen Anmerkungen versehenen – Close Reading fragte sich der Autor wiederholt: Ist das, was ich da lese, eigentlich ernst oder ironisch gemeint? Er entschied sich für die frechere Lesart, die uns – seien wir ehrlich – über von Donops Verskunst hinaus Leben und Werk wirklich interessant machen. Dass sie ihre Initialen – ein zweiter Zufall (?) – mit denen einer anderen Aufgeklärten der westfälischen Literatur teilt (Annette von Droste) passt da ins Bild. Thenior entdeckte bei der älteren Dichterschwester neben der Leichtigkeit des Tons einen entlarvenden Blick für die Schwächen ihrer Mitmenschen, einen scharfen Witz, ja Bosheit und Hinterlist. Er stellt sie uns als selbstbewusste junge Frau vor, die kein Blatt vor den Mund nahm und mächtig stolz darauf war, mit ihrem genannten Bändchen in eine Männerdomäne eingebrochen zu sein. Eine Glückliche war sie wohl nicht, lässt uns Thenior wissen, vermutlich allein gelassen mit ihrem „Zauberwort“, um die Droste zu zitieren. Ihre literarischen Habseligkeiten warf die Donop kurzerhand und auf Nimmerwiedersehen aus dem Fenster. Gedankt hat ihr ihre Verse niemand. Mit Ausnahme von Florenz Arnold Consbruch (1729–1784) vielleicht, der in seine „Versuche in Westphälischen Gedichten“ (1751) einige Verse über sie einfließen ließ. Aber auch hier bleibt die Frage: Sind die Anspielungen arglos gemeint oder ist doch Stichelei im Spiel, in Zeiten, in denen schreibende Frauen nicht im besten Ruf standen? Was zugleich die Frage aufwirft: Was bleibt vom literarischen Text? AvD, die Ältere, ist längst vergessen. Das Profane überlagert alles. Der Autor benennt es unbarmherzig. In der Klinik greifen die Menschen lieber zur Bild-Zeitung als zu anderer Lektüre, und in der Buchhandlung erklärt man ihm, „unsere Regionalia sind keine Lyrik“. Umso glücklicher darf man sich schätzen, dass der Autor die mit seinem Manuskript verbundenen Mühen auf sich nahm und Amalie von Donop eine Zeit lang Teil seines Lebens werden ließ. Und eine geeignete Form dafür fand, sie den heutigen Interessierten als „Frau von Fleisch und Blut“ vorzustellen. Mit seiner Edition gibt Ralf Thenior also Vieles an die Hand. Auf seine Weise und nach seiner Methode. Die bei seinen eigenen literarischen Texten, die den Einstieg in den Band bilden, darin besteht, Miniaturbilder zu entwerfen, die pars pro toto für ein größeres Ganzes stehen und hierdurch vielleicht mehr aussagen als manch umfangreiche kultursoziologische Studie. Zwei, drei Wimpernschläge genügen, um das Assoziationsfeld zu eröffnen. Dann der Szenenwechsel mit neu justierter Kamera: Ein Talk mit dem Taxifahrer, der selbst ein verkappter Dichter ist. Klick. Alltagsbeobachtungen in der Fußgängerzone. Klick. Gang durch den botanischen Garten. Klick. Besuch im Buchladen. Klick. Das Herzproblem – „die Not ist groß, man muss erzählen“. Klick. Spaziergang, Speisesaal, Physiotherapie … Ein kleiner Ausschnitt genügt, um die Fantasie des Lesers/der Leserin zu entfachen, die Leerstellen muss/soll er/sie selbst ausfüllen. In solchen Zusammenhängen greifen wir gern auf das Nachwort Jürgen Brôcans in einem Ralf Thenior-Lesebuch (2021) zurück: „Nähe und Ferne, Lokales und Globales liegen nahe beieinander. Thenior … beobachtet Sprache und bedient sich der Sprache, um zu zeigen, wie ihre Sprecher ‚ticken‘. Er stellt ihre Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte mit einer Lakonie dar, die sie nie desavouiert, weil sich hinter jedem Ausschnitt und Anriß ihres Lebens Hunderte kleiner Geschichten entfalten können … Aus scheinbar Banalstem werden dann feine Epiphanien gemeißelt ... Der mal trauernde, mal zynische Umgang mit dem Tod hat als Kehrseite die helle Medaille des Lebens, die Theniors – bei aller gerechtfertigten Skepsis – doch grundsätzlich heitere, positiv getönte Seite zeigt. In seinem Inventar stehen Engelbert Kaempfer und Penelope Cruz so dicht nebeneinander wie Allusionen auf Science-Fiction- Filme oder Grimm’sche Märchen, bunt gemischt wie ein aufregendes Kartendeck. Nicht zu vergessen: die eingeschalteten Lebensweisheiten und aufgeschnappten Sinnsprüche, z.B. ‚Alter, du musst kucken, / dass du am Kacken bleibst. / Das ist alles‘, direkt neben einem Einkaufszettel. All das ist nicht zu verachten, wie schon Marianne Moore wußte, und ein treffliches Material für die Dichtung … So fügen sich ein Zitat von Amalie von Donop oder das Lied aus einer Jukebox nahtlos ein in den Stimmenchor der Thenior’schen Poeme.“ Prof. Dr. Walter Gödden Geschäftsführer der Literaturkommission für Westfalen und wissenschaftlicher Leiter des Museums für Westfälische Literatur Haus Nottbeck
Aktualisiert: 2023-03-30
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