Engineering-IT Standardisierung im Systems Engineering der frühen Phase zur Befähigung kollaborativer Geschäftsprozesse im Automobilbau

Engineering-IT Standardisierung im Systems Engineering der frühen Phase zur Befähigung kollaborativer Geschäftsprozesse im Automobilbau von Seeßle,  Julia Christin
Zusammenfassung Die Digitalisierung industrieller Wertschöpfungsnetzwerke in Verbindung mit der zunehmenden Nutzung des Internets stellen die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) von Unternehmen vor neue Herausforderungen. Ansätze im Kontext Industrie 4.0, des Internets der Dinge und Dienste, bzw. allumfassend gesprochen, des Industrial Internets haben eine ganzheitliche digitale Unterstützung betrieblicher Geschäftsprozesse über den gesamten Lebenszyklus von Systemen zum Ziel [Ei15-1], [BZV15]. Als Systems Lifecycle Management (SysLM) wird die Ausgestaltung dieser Perspektive bezeichnet. Der Ansatz integriert bestehende Konzepte des Product Lifecycle Managements (PLM) und baut auf einem umfassenden Systemgedanken auf [ERZ14]. SysLM nimmt Einfluss auf Prozesse, Methoden sowie die Organisation von Unternehmen und wirkt sich insbesondere auf die frühe Phase der Systementwicklung aus. Prozesse und IT-Werkzeuge der Disziplinen im Engineering gilt es zu harmonisieren und in einen gemeinsamen Rahmen zu überführen. Einen wesentlichen Stellenwert nehmen hierbei interdisziplinäre Entwicklungsansätze sowie die Schaffung durchgängiger Prozessketten auf Basis von Engineering-IT Standards ein. Die Brisanz der zu gewährleistenden Interoperabilität über heterogene System- und Wertschöpfungsnetzwerke hinaus ist Entscheidungsträgern aus Industrie, Politik und Forschung bekannt. Zertifizierungsinitiativen wie bspw. der Code of PLM Openness (CPO), ein Kodex für Offenheit und Interoperabilität zwischen IT-Systemen, initiiert von Herstellern der Automobil-, Aerospace- und Zuliefererindustrie, wird derzeit unter der Schirmherrschaft des Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geführt [Se16-1]. Auch bedeutende Forschungsallianzen wie die Plattform Industrie 4.0 adressieren Themen der Standardisierung und rufen Arbeitsgruppen, als auch strategische Standardisierungsmaßnahmen ins Leben [PI4.0]. Gefordert wird die Entwicklung eines prägnanten Sets an interdisziplinären Standards, das praxisnah, auf Basis von Anwendungsfällen von Seiten der Industrie implementiert werden kann [DIN15], [BZV15], [VDI15]. Dessen Entstehung soll gremienbasiert, mithilfe offener Prozesse erfolgen. Unternehmen werden aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen. Allerdings fehlen bislang konkrete Herangehensweisen, wie sich Initiativen der Industrie miteinbringen lassen und Standards im Unternehmen langfristig etabliert werden können. Die Doktorarbeit stellt hierfür einen Ansatz, für die strategische Setzung von Engineering- IT Standards bereit. Grundsätzlich baut das Konzept auf drei Kernbausteinen auf: die Standard-Entwicklung, - Organisation und -Steuerung. In einem ersten Schritt erfolgt dazu die Darlegung unterschiedlicher Ausprägungsformen von Engineering-IT Standards. So lassen sich diese in Modellierungs-, Datenformat- und Integrationsstandards einteilen. Was die Engineering-IT Standardisierung betrifft, liegen ihnen unterschiedliche Paradigmen der Standard-Setzung zugrunde. Wohingegen Modellierungsstandards für die einheitliche Beschreibung komplexer Systeme verwendet werden, ermöglichen Datenformatstandards einen Austausch von Informationen über Unternehmen hinweg. Integrationsstandards unterstützen darüber hinaus firmeninterne Kollaborationsszenarien mittels der Verlinkung entsprechender Artefakte. Die Entwicklung von Engineering-IT Standards findet schrittweise unter der Erzielung unterschiedlicher Reifegrade statt. So wird im Rahmen des ersten Bausteins ein Phasenmodell für die Entwicklung von Engineering-IT Standards konzipiert. Die industrielle Durchdringung von Standards kann damit identifiziert und mittels einer Quality Gate orientierten Herangehensweise vorangetrieben werden. Zentrale Meilensteine entlang des Lebenszyklus ermöglichen es zudem, verschiedene Standardisierungsaktivitäten für Unternehmen zu identifizieren. Auch stellen organisatorische Aspekte einen wesentlichen Mehrwert für die Standard-Setzung dar. So wird im darauffolgenden Teil der Doktorarbeit ein betriebliches Organisationsmodell für die Operationalisierung von Engineering-IT Standards entwickelt. Sowohl betriebsinterne, als auch -externe Faktoren werden darin integriert. Insbesondere können konkrete Stellenprofile, auf Basis von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten (AKVs) ableitet werden. Was unternehmensexterne Rahmenfaktoren betrifft, ließen sich Organisationsstrukturen für den Aufbau externer Gremien erheben. Im Zuge des letzten Bausteins wird die Steuerung von Engineering-IT Standards forciert. Ein ganzheitlicher Ansatz für das Management von Engineering-IT Standards wird dazu, auf Grundlage konkreter Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen skizziert. Gezielt soll es Unternehmen ermöglicht werden, Standardsetzungsvorhaben aus betriebswirtschaftlicher Sicht messen und fortschreiben zu können. Die Engineering-IT Standardisierung wird dabei als Instrument des strategischen Geschäftsprozessmanagements verwendet. Betriebliche Ziele lassen sich so, mittels einer Engineering-IT Standardisierung verbinden. Eine unternehmerische Zielfunktion wird in diesem Zusammenhang formuliert. Sie umfasst dabei vier zentrale Komponenten: Positionierungsdiagramm, Standard-Heuristik, Strategie-Portfolio und Balanced Scorecard (BSC). Diese werden im Einzelnen ausgeführt und im Rahmen des Anwendungsteils implementiert. Im Zuge der Anwendung wird eine auf Fallbeispielen beruhende Realisierung angewandt. Kollaborativer Geschäftsprozesse im Systems Engineering gilt es dabei zu befähigen. Im Speziellen wird die frühe Phase der Systementwicklung beleuchtet, da ihr ein hohes Potenzial für die Optimierung von Geschäftsprozessen obliegt. Die Doktorarbeit baut auf Implementierungen aus Sicht eines Fahrzeugherstellers (OEM = Original Equipment Manufacturer) auf. Gremienarbeiten erfolgten deshalb in Zusammenarbeit mit dem ProSTEP iViP Verein (PSI). Es gelang dadurch Use Cases von Engineering-IT Standards mit Standardisierungspartnern abzuleiten. Drei der synthetisierten Use Cases werden im Rahmen der Doktorarbeit diskutiert: System Design Validation, System Design Clarification, Stakeholder Request Clarification. Sie zielen auf einen kollaborativen Entwurf mechatronischer Systeme zwischen OEM und Entwicklungspartner ab. Das Requirements Interchange Format (ReqIF), als auch die Systems Modeling Language (SysML) der Object Management Group (OMG) liegen im Fokus. So lassen sich die beiden Engineering-IT Standards innerhalb der erarbeiteten Use Cases integrieren. Für den Datenformatstandard ReqIF wurde eine inhaltliche Standardisierung (Content Harmonization) realisiert. Eine initiale ReqIF Attribute Liste konnte in diesem Zusammenhang herausgearbeitet werden. Was den Modellierungsstandard SysML betrifft, gelang es erste Szenarien für den kollaborativen Entwurf mechatronischer Systemumfänge zwischen OEM und Entwicklungspartnern zu beschreiben. Der Einsatz eines Begleit-Prinzips wird dazu verwendet, um mechatronische Systemarchitekturen in Zukunft übertragen zu können. Ergebnisse und Folgerungen zeigen dabei, dass zukünftig mit einer Prozessumstellung und Systemneugestaltung zu rechnen ist. Eine Rückverlagerung von Wertschöpfungsschritten findet von Entwicklungspartnern hin zum OEM statt. Eine strategische Geschäftsmodelländerung wird dadurch induziert. So forcieren OEMs, wieder im Besitz von mechatronischen Systemarchitekturen zu sein. Grund dafür ist der zunehmende Wissens- und Kompetenzabfluss bzgl. der Software- und Elektrik/Elektronik-Entwicklung. Anstelle horizontal aufbauender Beschaffungsketten, wird eine vertikale Aufteilung von mechatronischen Systemumfängen erfolgen. Fahrzeugherstellern wird dadurch die Möglichkeit gegeben, Gesamtsystemarchitekturen zu planen und zu koordinieren. Bisherige Kooperationsmodelle werden sich im Zuge dessen verändern. Ein Datenaustauschformat für die Übertragung mechatronischer Systemarchitekturen wird deshalb benötigt. Die im Rahmen dieser Arbeit gegebenen Ansätze können dazu verwendet werden, um dies in Zukunft zu realisieren. Hohe Potenziale bzgl. der Vernetzung mechatronischer Systeme werden dadurch für den OEM freigesetzt. Komplexe, miteinander verbundene Systeme lassen sich infolgedessen verwirklichen. Die strategische Setzung von Engineering-IT Standards kann dies unterstützen.
Aktualisiert: 2023-01-27
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