An der «Begräbnissstätte der Anschauung»
Nietzsches Bild- und Wahrnehmungstheorie in 'Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'
David Marc Hoffmann, Sören Reuter
Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: Neuer Zugang zu einem Schlüsseltext der Moderne
«Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. […] Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.»
Wie entwickelt Nietzsche seine Überlegungen zur Sprach- und Erkenntnissituation des Menschen vor dem Hintergrund des im späten 19. Jahrhundert intensiv geführten sinnesphysiologischen Diskurses? Dieser Frage geht Sören Reuter in der vorliegenden Studie nach. Obwohl Nietzsche seine Thesen in die ihm vertraute Terminologie der klassischen Rhetorik kleidet, wählt Reuter einen erkenntnistheoretischen Zugang zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Die Bedeutung dieser frühen, erst postum veröffentlichten sprachkritischen Abhandlung blieb für das Verständnis von Nietzsches Philosophieren lange Zeit unbeachtet. Doch heute gilt sie in der neueren Forschung als einer der Schlüsseltexte der Moderne.
So basiert etwa Nietzsches Sprachkritik unter anderem auf der Wahrnehmungstheorie von Hermann von Helmholtz. Dessen mehrbändiges Handbuch der physiologischen Optik (1857–1867) rezipiert Nietzsche allerdings nicht direkt, sondern eignet sich die darin aufgeworfenen zentralen Frage- und Problemstellungen indirekt in Form der vermittelnden Lektüre an, insbesondere anhand der Schriften von Friedrich Albert Lange, Johann Carl Friedrich Zöllner, Gustav Gerber, Afrikan Spir und Eduard von Hartmann. So rückt in Reuters Darstellung auch Nietzsches ganz persönlicher Umgang mit Texten und deren Rolle für sein Schreiben in den Blick. Das Ziel liegt hierbei darin, (fremdes) Material in sich aufzunehmen und in etwas Eigenes zu transformieren.