Chancengleichheit und „Behinderung“ im Bildungswesen
Gerechtigkeeitstheoretische und sonderpädagogische Perspektiven
Ivo Wallimann-Helmer
Damit behinderten Menschen die gleichen sozialen Möglichkeiten offen stehen, müssen für sie angemessene Bildungschancen sichergestellt werden. Dies bedeutet in der politischen Rhetorik meist, Chancengleichheit für Behinderte zu fordern. Dabei bleibt allerdings häufig offen, wie sich Bildungsansprüche für behinderte Menschen rechtfertigen lassen, die über ein Nicht-Diskriminierungsgebot hinausgehen. Die Rechtfertigung solcher Bildungsansprüche wirft normative Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf. Gleichzeitig verlangen sie in der pädagogischen Umsetzung nach Kriterien zur Bemessung entsprechender Leistungsansprüche.
Hierzu müssen sowohl aus normativer als auch aus pädagogischer Perspektive folgende drei Fragen beantwortet werden: a) Was ist im Kontext der Rede von Chancengleichheit im Bildungswesen überhaupt unter „Behinderung“ zu verstehen? b) Wie sind die knappen Ressourcen zur Sicherstellung von Chancengleichheit zwischen „Behinderten“ und Nicht-„Behinderten“ zu verteilen? c) Welche pädagogischen Massnahmen lassen sich zur Sicherstellung von Chancengleichheit für „Behinderte“ rechtfertigen? Die in diesem Band vereinten Beiträge erläutern diese drei Fragen aus gerechtigkeitstheoretischer und sonderpädagogischer Sicht.
Die gerechtigkeitstheoretischen Beiträge in diesem Band bilden die egalitaristische und non-egalitaristische Rechtfertigungsperspektive ab und diskutieren die Forderung nach Chancengleichheit im Lichte der Bildungsansprüche behinderter Menschen. Im Gegensatz zur philosophischen Debatte ist die Diskussion über Bildungsansprüche behinderter Menschen aus der Perspektive der Sonderpädagogik nicht in erster Linie mit deren normativen Rechtfertigung befasst. Die sonderpädagogischen Beiträge in diesem Band behandeln Fragen der Umsetzung von Chancengleichheit für „Behinderte“ vor dem Hintergrund der normativen Theorie.