Exilsituation und inszeniertes Leben
Helmut Koopmann, Leonie Marx
Wer in das Exil ging, erlebte fast immer eine Identitätskrise; die Parameter des bisherigen Lebens waren durcheinander geraten. Manche Exulanten antworteten darauf mit einem gesteigerten Selbstbewußtsein, andere mit einem Verlust ihres Ichgefühls. Fast alle gerieten in ein eigentümliches Rollendasein; sie definierten ihre eigene Existenz neu, sahen sich andererseits in Rollen gedrängt, die sie um des Überlebens willen annehmen mußten; sie inszenierten, mit anderen Worten, ihr Leben – vor ihrer neuen Umgebung, aber auch vor sich selbst. Die Beiträger des Bandes untersuchen diverse Rollenspiele der Exulanten, die exilbedingte neue Artikulation in der Literatur, im Theater, in der Musik und in den bildenden Künsten. Zur Inszenierung des Lebens gehörten Schriftstellerkongresse wie auch Netzwerke exulierter Komponisten und Schriftsteller, wie sie sich besonders in New York und Los Angeles herausbildeten. Aber einzelne Exulanten inszenierten sich auch vor sich selbst (Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko). Die Vortragsreisen berühmter Exulanten waren ebenso „Inszenierungen“ wie die literarischen Hilferufe einzelner Autoren. Ein besonders markantes Beispiel literarischer Inszenierungen des Exils bieten Brechts „Flüchtlingsgespräche“. Inszenierungen waren oft aber auch noch die Retrospektiven in den nachträglich verfaßten Autobiographien. Besonderes Gewicht bekommt der Band durch die Beiträge von „Zeitzeugen“ (Clemens Kalischer, Egon Schwarz, Guy Stern), die Exil und die Notwendigkeit von „Inszenierungen“ persönlich während ihrer Vertreibung erleben mußten. Frido Mann wurde im Exil geboren; sein Beitrag betont die moralische Autorität der Exulanten und schlägt die Brücke zur Gegenwart.