Geistliche Lebenswelten
Zur Sozial- und Mentalitätengeschichte der Geistlichen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit
Manfred Jakubowski-Tiessen
Die Geistlichkeit war eine im Vergleich zu Bauern und Handwerkern kleine Sozialgruppe, allerdings unter den akademisch Gebildeten bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die größte. Die Geistlichen haben durch ihre Predigt- und Amtstätigkeit eine enorme Gestaltungskraft auf Gesellschaft und Kultur zu entfalten vermocht, nicht zuletzt auch wegen ihrer gewissermaßen flächendeckenden Präsenz im Lande. Geistliche wirkten in Städten wie in Dörfern, sie versahen ihren Dienst am Hofe, also im Zentrum der Macht, wie auch auf den kleinen, fernab liegenden und nur schwach bevölkerten Halligen im Herzogtum Schleswig. Sie wirkten in ihren Gemeinden als Einzelne in eigener Verantwortung und waren dennoch in die Hierarchien ihrer Kirche eingebunden.
Erstaunlich ist, dass diese wichtige gesellschaftliche und kulturelle Leistung der Geistlichkeit lange Zeit in der deutschen geschichtswissenschaftlichen Forschung kaum entsprechenden Niederschlag gefunden hat. Erst im letzten Jahrzehnt sind der evangelischen Geistlichkeit als gesellschaftlich prägender Gruppe ausführliche sozial- und mentalitätsgeschichtliche Studien gewidmet worden. Die Geistlichkeit war weder hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und ihrer Bildung noch hinsichtlich ihrer theologischen und kirchenpolitischen Ausrichtung eine homogene Gruppe. Zwischen einem Pastor primarius in der Stadt und einem Dorfpfarrer bestand in der Regel nicht allein eine erhebliche Differenz in der materiellen Ausstattung ihrer Pfarrämter, sondern oftmals lässt sich auch ein deutliches Bildungsgefälle zwischen den Geistlichen in der Stadt und denen auf dem Lande wahrnehmen.
Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen auf eine Tagung zurück, die 2001 auf dem Koppelsberg bei Plön veranstaltet wurde. Den Ertrag dieser Tagung dokumentiert der vorliegende Band, für den noch zusätzliche Autoren gewonnen werden konnten. Die in diesem Band enthaltenen Beiträge greifen ein Desiderat der schleswig-holsteinischen Kirchengeschichtsschreibung auf. Darüber hinaus sollen die einzelnen – zum Teil auch auf andere Territorien bezogenen – Studien wichtige Bausteine für eine allgemeine Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Geistlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit liefern. Die Beiträge beleuchten die von den Geistlichen erfahrenen Wirklichkeiten, die Bedingungen ihrer Amtstätigkeit, ihre Handlungsfelder und Handlungsspielräume sowie auch ihre Denkformen, soweit sie sich in den Quellen über ihre Amtstätigkeit widerspiegeln. Dabei werden stärker kollektive Prägungen der Geistlichkeit und grundlegende Strukturen des Pfarrerdaseins als individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen in den Blick genommen. Es geht in diesem Band vor allem um die soziale Wirklichkeit der Geistlichen, um ihre sozialgeschichtliche Verortung und ihre mentalitätsgeschichtlichen Prägungen.