Geld. Wie von ‚Geld‘ sprechen? – Eine interdisziplinäre Annäherung
polylog 23
Karl-Heinz Brodbeck, Jesús Crespo Cuaresma, Hassan Hanafi, Hans Schelkshorn, Martina Schmidhuber, Gerhard Senft, Michael Shorny, Simron Jit Singh, Benedikt Wallner, Zahid Zamir
Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise hat schlagartig die Instabilitäten und irrationalen Exzesse der globalisierten kapitalistischen Marktwirtschaft vor Augen geführt, die inzwischen alle Völker und Kulturen in einem System tiefer Abhängigkeitsverhältnisse gefangen hält. Das anonyme Geldsystem, das scheinbar problemlos kulturelle Grenzen überschreitet und wohl die mächtigste Klammer der gegenwärtigen Weltgesellschaft darstellt, steht in einem kontrastreichen Spannungsverhältnis zu den kulturellen und religiösen Konfliktfeldern unserer Zeit. Während die Mechanismen der globalen Marktwirtschaft primär durch eine mathematisierte Wirtschaftswissenschaft analysiert werden, setzen sich die Philosophie und die Humanwissenschaften mit hohem hermeneutischem Aufwand vor allem mit trans- bzw. interkulturellen bzw. -religiösen Prozessen auseinander. Vor diesem Hintergrund erklären sich einerseits die Notwendigkeit, andererseits aber auch die Schwierigkeiten einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Geld‘ im Kontext eines interkulturellen Diskurses. In den vorliegenden Beiträgen dieses Schwerpunktheftes von Polylog, das vor allem dank der Initiative und des Engagements von Dr. Benedikt Wallner möglich geworden ist, wurde bewusst der Akzent auf eine interdisziplinäre Auseinandersetzung gelegt, die geistesgeschichtliche, historische, wirtschaftswissenschaftliche, anthropologische und philosophische Zugänge umfasst. Darüber hinaus stellen die einzelnen Autoren auch selbst vielfache Bezüge, die über ihre eigene Fachdisziplin hinausgehen, her.
Im ersten Beitrag über Das Geld, die Null und das Subjekt der Moderne geht Karl-Heinz Brodbeck den geistesgeschichtlichen Ursprüngen der kapitalistischen Marktwirtschaft nach, die in einer bestimmten Sicht des Geldes liegen. Im Unterschied zu Marx und Simmel, die ‚hinter‘ dem Geld Arbeitswerte oder subjektive Wertschätzungen ansetzten, bestimmt Brodbeck das Geld als eine ‚Denkform‘, in der sich Menschen vergesellschaften. Die Gründzüge des Geldes als Denkform werden nach Brodbeck bereits in Leonardo Pisanos Liber abaci (1202) in aller Klarheit herausgestellt. Darin zeigt sich auch, dass der Aufstieg der Geldwirtschaft in Europa seit dem Hochmittelalter durch die Übernahme der Zahl Null aus dem indischen, genauer dem buddhistischen Denken befördert worden ist, da dieses Zahlensystem unendliche Quantitäten zu denken erlaubt. Aus der Denkform des Geldes lassen sich nach Brodbeck nicht nur die Momente der neuzeitlichen Idee eines grenzenlosen Wachstums, sondern auch die mathematische Naturwissenschaft, wie sie von Galilei und Descartes begründet worden ist, herleiten.
Ein anschauliches und zugleich aktuelles Beispiel für den Zusammenhang zwischen ‚Geld‘ und ‚Denkform‘ bietet der Beitrag von Simron Jit Singh Vom Überfluss zur Knappheit. Simron Jit Singh beschreibt am Beispiel der Bewohner der Nikobaren, einer Inselgruppe vor der Ostküste Indiens, die dramatischen Auswirkungen der Umstellung vom Tauschhandel zur Geldwirtschaft auf das gesellschaftliche Leben. Die Nikobaresen konnten, wie Simron Jit Singh in einer historischen Rückblende aufzeigt, trotz dänischer und britischer Kolonialherrschaft und der Eingliederung in den indischen Staat ihre Lebensform als Jäger und Sammler bis in die jüngste Vergangenheit hin behaupten. Dank ihrer günstigen Lage an der historischen Gewürzstraße betrieben die Nikobaresen zudem bereits in früher Zeit Tauschhandel. Die Einführung des Geldsystems setzte, wie Simron Jit Singh aufzeigt, mit dem Tsunami von 2004 ein. Denn erst die Geldwelle nach der Flutwelle, hauptsächlich in Form von Spenden der Hilfsorganisationen, sollte ihr Leben nachhaltig verändern, da die plötzliche Zufuhr großer Geldmengen zu einer dramatischen Erosion der traditionellen sozialen Beziehungen und Institutionen, einschließlich der Werte und Regeln für die Nutzung von Ressourcen, führte. Der einstige Wohlstand der Nikobaresen mit ihren ‚begrenzten Wünschen und unbegrenzten Mitteln‘ ist nach Simron Jit Singh heute durch einen Zustand der unbegrenzten Wünsche und begrenzten Mittel ersetzt worden, mit der Folge, dass eine jahrtausende alte Tradition selbstbestimmten Lebens abrupt beendet und durch eine vollständige Abhängigkeit von staatlichen und nicht-staatlichen Modernisierungsagenturen abgelöst worden ist. Wir haben hier den – natürlich nur aus Sicht der Wissenschaft – ‚glücklichen‘ Fall vor uns, die 2004 plötzlich einsetzende Transition der flächendeckenden Einführung von Geld gleichsam live beobachten zu können: Simron Jit Singh forscht bereits seit 1999 vor Ort auf der Inselgruppe, hat deren Geschichte in europäischen und indischen Archiven durchstöbert und hat die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen selbst beobachten können.
Die folgenden Beiträge sind mit unterschiedlichen Akzentuierungen jeweils wirtschaftswissenschaftlich orientiert. Jesús Crespo-Cuaresma führt in seinem Beitrag Was wissen Ökonomen über Geld? in die aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Theorieansätze über die Entstehung des Geldes ein. Den unterschiedlichen Modellen, in denen die Einführung des Geldes in Naturaltausch-Ökonomien rekonstruiert wird, liegt jedoch nach Jesús Crespo-Cuaresma die erkenntnistheoretische Prämisse der unsichtbaren Hand zugrunde, so dass die Einführung des Geldes als unbeabsichtigtes Ergebnis rational handelnder Individuen erscheint. Im Gegensatz dazu deuten soziologische und philosophische Zugänge Geld als ’soziale Beziehung‘ bzw. als Medium von Machtverhältnissen, die in den wirtschaftswissenschaftlichen Modellen systematisch ausgeblendet werden. Die aktuelle Finanzkrise hat nun nach Jesús Crespo-Cuaresma die methodische Abstraktion von institutionellen Bedingungen einer breiten Kritik ausgesetzt. Im Zuge einer grundlegenden Neuorientierung der Ökonomie ist im Hinblick auf die Entstehung des Geldes daher nach Jesús Crespo-Cuaresma eine Analyse der Wechselwirkung zwischen institutionellen Settings und dem Verhalten des Individuums zwingend erforderlich.
Zahid Zamir stellt in seinem Beitrag Wirtschaft ohne Zins? Mythos oder Realität? das islamische Zinsverbot als wichtiges Element für eine Neuordnung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems heraus. Das Verbot des Zinses (Riba) findet sich, wie Zahid Zamir einleitend klarstellt, in allen wichtigen Quellen des Islam. Dennoch stellt sich der Islam nicht prinzipiell gegen eine dynamische Marktwirtschaft. Im Gegenteil, Sparen und Investitionen, die zentralen Determinanten ökonomischen Wachstums, sind, wie Zahid Zamir auch im Rekurs auf westliche Ökonomen, insbesondere John Maynard Keynes, aufzeigt, nicht vom Zins abhängig. Mehr noch, der Zinssatz bewirke Inflation und Arbeitslosigkeit, erhöhte Zinssätze verhindern hingegen mögliche Investitionen. Die Alternative zum Zinssystem ist nach Zahid Zamir die Gewinnbeteiligung von Arbeitern und Geldgebern. Denn das sogenannte PLS-(‚Profit-and-Loss-Sharing‘)-System enthält für sämtliche Akteure Anreize zur Produktivitätssteigerung.
Die beiden letzten Beiträge wenden sich aus unterschiedlichen Perspektiven der aktuellen Finanz- bzw. Wirtschaftskrise zu. Gerhard Senft vergleicht in seinem Beitrag ‚… ein krankhafter Zustand des Geldmarktes‘ die gegenwärtige Finanzkrise mit dem Wiener Börsenkrach von 1873, ein Vergleich, der nach Senft erhellender ist als die heute übliche Bezugnahme auf die Folgen der Wirtschaftskrise von 1929. Die Parallelen sind tatsächlich verblüffend. Damals wie heute brach die Krise nach einer extremen Boom-Periode aus, die in der Gründerzeit vor allem durch die Bauwirtschaft, in der jüngeren Vergangenheit hingegen durch die Informationstechnologie getragen wurde. In beiden Fällen war die Kontrolltätigkeit des Staates jeweils sukzessiv zurückgenommen worden. Die Finanzkrise von 1873 hatte jedoch, wie Gerhard Senft betont, nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern leitete auch in geopolitischer Hinsicht gravierende Verschiebungen ein. Denn seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnt der Aufstieg USA als neue Führungsmacht in der Weltpolitik. Vieles deutet nach Gerhard Senft darauf hin, dass auch die gegenwärtige Finanzkrise zu einer Veränderung der weltpolitischen Machtkonstellation führen wird, in der vor allem China und Indien, die sich in der Vergangenheit vehement gegen eine Liberalisierung der Kapitalmärkte gesträubt haben, eine neue Führungsrolle in der Gestaltung der globalen Märkte übernehmen werden.
Benedikt Wallner, der als Rechtsanwalt in Wien bereits tausende Klienten gegenüber der Finanzwirtschaft vertreten hat, beleuchtet nicht nur die zunehmende Abhängigkeit der Einzelnen vom Geld, sondern auch die ideologischen Horizonte des gegenwärtigen Finanzsystems, das in vielerlei Hinsicht ersatzreligiöse Aspekte aufweist. Das sakral aufgeladene Geld verbindet sich nach Benedikt Wallner mit einem Heilsversprechen, in dem dem Einzelnen die Erlösung von den Kontingenzen menschlichen Lebens in Aussicht gestellt wird. Seiner Auffassung nach funktioniert das Geldherrschaftssystem durchaus zufriedenstellend und effizient für seine Erfinder, so dass die Rede von der ‚Krise‘ einer Verortung bedarf. So wie es für Marx immer unverständlich blieb, dass der Arbeiter als eigentlicher Produzent der Güter in der kapitalistischen Ideologie der Selbstvermehrung des Kapitals verschwindet, so fragt auch Wallner am Schluss seines Beitrags, wie es möglich ist, dass in der entwickelten Industriegesellschaft zwar alles Geld ‚von den Märkten‘ und damit vom Konsumenten kommt, jedoch dieser Konsument – den früheren Leibeigenen nicht unähnlich – sich nach wie vor nur in der Rolle des den Zehent abliefernden Untertanen wiederfindet.