großvaters olivenhain von kanay,  ismail

großvaters olivenhain

Dr. Kalayci lernte ich kennen, als er die Praxis unserer Hausärztin übernahm, die in Ruhestand gegangen war. Bei meinem ersten Besuch sah ich neben einem Buddhakopf einen Lyrikband auf seinem Tisch; ich glaube, es waren Gedichte von Octavio Paz. „Sie lesen Lyrik?“, fragte ich. „Ich lese nicht nur Lyrik, ich schreibe sie auch“, sagte er. „In Türkisch?“ fragte ich. „In Deutsch, mein Türkisch ist nicht so gut.“ Und so kamen wir uns nahe, zwei Literaturbeflissene, Literaturbesessene, die sich hinfort mehr über Literatur unterhielten als über Krankheiten – zum Kummer meiner Frau. Kam ich von einer Untersuchung nach Hause, fragte sie: „Was sagte der Arzt?“ Ich: „Wir sprachen viel über Marcel Proust.“ Und auf ihre unwillige Reaktion hin, schob ich dazwischen: „Es ist alles in Ordnung“, um sogleich über Proust fortzufahren.

Rasch verbreitete sich der Ruf des freundlichen neuen Arztes. Seine Praxis füllte sich mit jungen und alten Menschen, mit Deutschen wie mit Türken. Zeitweise machte ich mir mehr Sorgen um seine Gesundheit als um meine, denn er arbeitete rund um die Uhr. Kam er endlich nach Hause, auch von Hausbesuchen erschöpft, setzte er sich an den Computer, um zu schreiben. Ich dachte an die berühmten Berliner Ärzte, die auch Schriftsteller waren. An Gottfried Benn und Alfred Döblin. Kalayci schreibt Gedichte wie Benn und Prosa wie Döblin. Und wie Döblin ist er ein „Armenarzt“, wie man das damals nannte. Döblin seinerzeit im Osten Berlins, Kalayci heute im Norden Berlins.

Ich las seine Gedichte und war beeindruckt. Ich las seinen Roman „Großvaters Olivenhain“ und war gerührt. Dieses Werk schloss ich sogleich in mein Herz: eine zarte anrührende Geschichte, mit leichter Hand verfasst, in reichem Deutsch, humorvoll erzählt, mit einer Ironie, wie ich sie in den Werken der großen Romantiker Jean Paul und E. Th. A. Hoffmann schätze. Der Erzähler setzt sich mit seinen Gestalten und dem Leser in Beziehung, er reflektiert seine Erzählung in der Erzählung, aber nicht aufdringlich, sondern liebevoll ironisch. Das ist, finde ich, meisterhaft. Und es ist eine „postmoderne“ Prosa, wenn es das gibt, denn wie Kalayci den Roman „Levins Mühle“ von Johannes Bobrowski als Subtext benutzt, wie er seinen eigenen Roman in Anlehnung an diesen Roman verfasst, wie er den guten Bobrowski neben seinen guten Großvater setzt, wie die beiden Alten, lange verstorbenen, gemeinsam Tee trinken, das ist eine kunstvolle Konstruktion, wie sie bei Jean Paul zu finden sein könnte oder bei Hoffmann, bei denen es geschehen kann, dass der Held der Erzählung sich an seinen Erzähler wendet, um diesen zu korrigieren.

Die Geschichte selbst ist mir halb fremd und halb vertraut. Fremd natürlich das türkische
Milieu, das ich hier erst kennen lerne: das ruhige Leben in den seit Jahrhunderten geltenden Regeln, die jedem seinen Platz in der Welt zuweisen. Das wird hier behutsam aufgezeigt mitsamt den geschichtlichen Wurzeln. Wundervoll die Schilderung der Hochzeit. Und dann der Umsturz der Verhältnisse durch die moderne Welt, durch Industrialisierung, Elektrifizierung, Motorisierung. Das Alte verschwindet nach und nach, um einem Neuen Platz zu machen, es ist durchweg eine schmerzhafte Erneuerung, denn es zeigt sich allenthalben, dass der sogenannte Fortschritt nicht nur mit Gewinn verbunden ist, wie allzu oft behauptet, sondern auch mit enormen Verlusten. Das wiederum ist mir vertraut. Hier geht unsere Entwicklung mit der türkischen überein, die einige Zeit später erfolgte als die unsrige: es ist der Übergang von einer handwerklich-agrarischen Welt in eine industrielle.

Wenn ich in der Praxis von Dr. Kalayci die alten Türken sehe mit ihren ausgearbeiteten Gesichtern, Männer wie Frauen, die ihr Leben lang in Deutschland gearbeitet haben, immer in der Hoffnung, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können, und die dann doch geblieben sind, weil ihre Kinder und Enkel hier leben und Deutsche geworden sind mit türkischen Wurzeln, wenn ich diese alten Menschen sehe, denke ich an die Menschen, unter denen ich in der Nachkriegszeit in Rheinhessen groß geworden bin. Die Brüder meiner Mutter waren alle kleine Handwerker, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben bei geringem Einkommen und die im Alter diese Würde der Arbeit zeigten wie eben diese türkischen Menschen. Da denke ich dann an meine eigene Geschichte. Und so wird diese türkische Geschichte auch zu einer deutschen, denn das, was mit Großvaters Olivenhain geschieht, das ist eine Generation zuvor mit dem Weinberg meines Großonkels geschehen, hier ist es eine Schnellstrasse, dort war es ein Gewerbegebiet. Fährt man heute von Bad Kreuznach, wo ich geboren bin, rechts der Nahe nach Bingen am Rhein, wo ich zur Schule ging, fährt man nicht mehr durch fünf Weindörfer wie zu meiner Schulzeit, sondern durch ein einziges Gewerbegebiet, das von einer Schnellstrasse und einer Autobahn durchschnitten wird.

Ich schreibe das nicht nur, weil Dr. Kalayci und ich uns gerne unsere Geschichte erzählen. Kalayci, in Izmir 1965 geboren, kam als Kind mit seinen Eltern 1973 nach Berlin. Sein Abitur war so vorzüglich, dass die Eltern sagten, Du musst Medizin studieren, also studierte er Medizin, obwohl sein Interesse der Philosophie galt. Er brach das Studium dann aber doch ab und studierte Philosophie und machte darin seinen Abschluss. Er unternahm eine große Reise von der Türkei über Indien nach China. Er entdeckte Buddha, aber nicht nur für sich, wie heute viele bei uns, denen Buddha zu einem entspannten Leben verhelfen soll. Er entdeckte den Menschenfreund, der anderen zu einem heilen Leben helfen will. Deshalb studierte Kalayci Medizin zu Ende. Nach der Facharztausbildung in verschiedenen Berliner Krankenhäusern übernahm er 1997 die Praxis in Reinickendorf.

Ich erzähle dies auch, um die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die ja immer vorhanden sind, auch bei unterschiedlichen kulturellen Prägungen, es sind die allen Menschen gemeinsamen Anlagen und Erfahrungen. Deshalb wird uns die zunächst fremde Welt des Großvaters in seinem Olivenhain vertraut, weil wir darin menschliches Glück und Leid finden, das uns wohl vertraut ist. Und so stellen wir uns vor, wie wir uns dazu setzen, wie wir neben dem deutschen Schriftsteller und dem türkischen Großvater auf einem dritten Kissen Platz nehmen, um mit ihnen gemeinsam den süßen Tee zu schlürfen. Jeder Leser ist dazu eingeladen.

Dr. Hans Dieter Zimmermann
Professor emeritus des Instituts für Literaturwissenschaft der TU Berlin

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