Kreativität und Psyche
Zur Psychologie des Künstlerischen
Gerhard Oberlin
Picassos Bemerkung, er würde es nicht weitersagen, wenn er wüsste, was
Kunst sei, pointiert einen eigentümlichen Sachverhalt: Ob Malerei, Musik,
Literatur, Bildhauerei – Kunst scheint die Frage zu sein, auf die wir keine
Antwort wissen, weil sie die Antwort ist.
Etwas anderes ist es mit der Sache der Kreativität. Auch wenn uns deren
künstlerische Erzeugnisse ein Rätsel bleiben, können wir doch recht gut verstehen,
weshalb wir kreativ sind und was sich bei kreativen Akten mental
abspielt. Dabei macht es zunächst keinen Unterschied, ob wir ein Auto reparieren, über der Weltformel grübeln oder eine Statue hauen. Eine Psychologie der Kreativität, wie dieses Buch sie vorstellt, ist eine
Psychologie des spielenden Menschen, der unter anderem auch Kunst schafft.
Wenn wir uns mit dem Künstlerischen als einer Sonderform dieses geistigen
Spiels beschäftigen, geht es nicht nur um „Kunst“, sondern allgemein um das
Gestalterische in der imaginativen Auseinandersetzung mit der äußeren Welt.
Dabei wird ein Paradox verständlich: Ohne Kreativität entbehren wir nicht
nur, was uns in einer pragmatischen Welt entbehrlich scheint: des Künstlerischen,
sondern wir ermangeln auch der realistischen Weltsicht. So wie
„wirkliche Realität immer unrealistisch [ist]“ (Franz Kafka), so schärft das
scheinbar Unrealistische im geistigen Spiel unseren Wirklichkeitssinn. Es ist
daher nicht falsch zu behaupten, dass Kreativität eine Voraussetzung für geistige
Gesundheit ist.