Pentekostalismus – Pfingstkirchen von Agan SVD,  Polykarp Ulin

Pentekostalismus – Pfingstkirchen

EINLEITUNG
In Form von verschiedenen Erweckungsbewegungen oder Inspirationsgemeinden
ist im 18. Jahrhundert eine Strömung im Christentum
wahrzunehmen, die das Wirken des Heiligen Geistes in die Mitte ihres
Glaubenshandelns stellte und sich deshalb Pfingstbewegung nannte. Für
diese Bewegung, aus der die Charismatische Bewegung, die Wort-des-
Glaubens-Bewegung und die Neocharismatische Bewegung entstanden
sind, war die „traditionelle Kirche“ zu sehr auf die Philosophie des Seins
fixiert, sodass sie die Dynamik des Werdens im Glaubensleben vernachlässigte.
Eine solche Kirche ist für sie weit entfernt von den neutestamentlichen
Gemeinden, weil sie dem Wirken des Heiligen Geistes – insbesondere
den Geistesgaben wie Heilung, Prophetie und Zungenrede –
gegenüber gleichgültig ist.
Als eine dynamische Bewegung des Werdens prägt die Pfingstbewegung
weltweit Teile des Christentums, vor allem in der so genannten Dritten
Welt. Durch Globalisierung, in heutiger Zeit vor allem verstärkt durch
weltweite Migrationsbewegungen, findet diese Bewegung stets fruchtbaren
Boden, auf den sie ihre Saat streuen und woraus sie die Früchte ihrer
Mühen und ihres Engagements ernten kann. In Südafrika z. B. gehören
80 % der schwarzen Christen zu den neuen Kirchen der Pfingstbewegung.
Im Kontext Lateinamerikas, vor allem Brasiliens, beschreibt José
Eustáquio Alves, Demografieforscher an der Hochschule für Statistik
(Escola Nacional de Ciências Estatísticas) in Rio de Janeiro, die dortige
rasante Entwicklung der Pfingstbewegung mit den Worten: „Brasilien ist
einzigartig: Es ist das einzige große Land, das in so kurzer Zeit eine so
tiefgreifende Veränderung seiner religiösen Landschaft erlebt hat.“ Gemeint
ist eine religiöse Revolution, die sich in der extremen Ausbreitung
der evangelikalen protestantischen Kirchen zeigt. 1970 bekannten sich
noch 92 % der Bevölkerung zum Katholizismus; 2010 waren es nur noch
64,6 %. Seiner Prognose nach sieht es so aus, dass im Jahr 2030 die Mitgliederzahl
des Katholizismus und die der protestantischen Gemeinden
(traditionellen und evangelikalen) gleichauf liegen wird. In Deutschland
gibt es, wenn auch die Mitgliederzahl dieser Bewegung hier vergleichsweise
gering ist, doch eine zunehmende Tendenz, sowohl bei der größten
Pfingstgemeinschaft, dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP),
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der nach eigenen Angaben rund 30 000 Mitglieder hat, als auch bei den
anderen Pfingstgruppen, die zwischen 1 000 und 4 000 Mitglieder zählen.
Die Akademie Völker und Kulturen St. Augustin ist sich dieses weltweiten
Phänomens bewusst und widmete ihre Vortragsreihe im Vortragssemester
2016/17 der Herausforderung des Pentekostalismus zwischen
„Fragilität und Empowerment“ (Moritz Fischer) – einer Herausforderung,
die die von uns praktizierte Art und Weise der Verkündigung, Gemeindebildung
und -leitung sowie die Rolle des Heiligen Geistes, die Bedeutung
der Spiritualität und den Stellenwert von Emotionen im Glaubensleben in
Frage stellen kann.
Mit PENTEKOSTALISMUS – PFINGSTKIRCHEN als Thema der
Akademie Völker und Kulturen möchten wir einen Beitrag leisten zur
Wahrnehmung der Grenzverläufe zwischen säkular und sakral, zwischen
Religion, Politik und Kultur sowie all ihren Manifestationen in einer immer
stärker globalisierten Welt. Dass hier keine eindimensionalen Erklärungen
sowie pauschale, normative Bewertungen zu erwarten sind, liegt
auf der Hand.
Ohne in ebensolche Bewertungen zu verfallen, vermittelt Dr. Yan
Suarsana (Heidelberg) einen Überblick, wie die Wirkung der Pfingstbewegung
auf die gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse im heutigen
jeweiligen Kontext wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung ist
umso bedeutender im Wissen um die Tatsache, dass weltweit die traditionellen
Kirchen einen gravierenden Mitgliederverlust verzeichnen, während
die Pfingstbewegung enorme Wachstumsraten aufweisen kann.
In Lateinamerika zum Beispiel ist die Pfingstbewegung auf dem
Vormarsch, was zur Folge hat, dass die katholische Kirche auf dem „katholischen
Kontinent“ immer mehr Mitglieder verliert. Prof. Dr. Margit
Eckholt (Osnabrück) zeigt in ihrem Beitrag auf, wie dieser Mitgliederverlust
im Kontext Lateinamerikas im Grunde ein normaler Trend der
Entwicklung auf globaler Ebene ist. Wahrgenommen wird dies durch die
Tatsache, dass sich jedes Jahr Millionen von Menschen einer der zahllosen
Pfingstkirchen anschließen. Experten schätzen die Anhängerschaft
dieser Bewegung sogar bereits auf eine halbe Milliarde Menschen. Ein
Kennzeichen dieser Bewegung ist ihre Unabhängigkeit von festen Strukturen
und Dogmen. Fragen, die sich dabei stellen, sind: Wie können die
Besonderheiten der Dynamik dieser Bewegung wahrgenommen werden?
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Hat diese Bewegung Einfluss auf den sozialen Wandel und religiösen
Habitus überhaupt?
Im Rahmen des noch engeren Kontexts Lateinamerikas ist Brasilien
hier ein „einzigartiges Phänomen“. Beim letzten Zensus von 2010 ist
auffällig, dass die Katholiken 2010 zum ersten Mal in absoluten Zahlen
hinter dem Wachstum der Bevölkerung zurückblieben. Die Pentekostalen
in ihrer Gesamtheit erreichten mehr als 22 %. Prof. em. Dr. Joachim G.
Piepke (St. Augustin) sieht hinter dieser dynamischen Entwicklung einige
Elemente, die für diese Bewegung in Brasilien charakteristisch sind: 1)
Archaische Religionsformen der antiken Mysterienreligionen kommen in
dieser Bewegung wieder zum Durchbruch, die eigentlich durch das
Evangelium der Bergpredigt Jesu überwunden schienen; 2) Charismatiker
und Pentekostale aller Schattierungen haben diesen einen Punkt gemeinsam,
sie zielen auf die persönliche Bekehrung des Gläubigen ab, die
durch so genannte übernatürliche Zeichen der Geistbesessenheit und daraus
folgende übernatürliche Wundertaten von Gott her bestätigt wird; 3)
die direkte Kommunikation mit Gott, Göttern oder Geistern verleiht dem
Gläubigen Identität, Selbstbewusstsein und Hoffnung auf irdisches Wohlergehen.
Auffällig ist hier, dass die Pfingstbewegung variantenreiche Gemeinden
und Gemeinschaften hervorbringt. Es gibt Gemeinden und Gemeinschaften,
die darauf eingestellt sind, politische Entscheidungen und gesellschaftliches
Leben mitzubestimmen. Wieder andere fühlen sich berufen,
sich in sozialen Projekten zu engagieren, um den Benachteiligten zu
helfen und sie zu unterstützen. In allem bekunden diese Bewegungen den
gleichen Grundtenor: die Gleichheit aller vor den Gaben des Heiligen
Geistes. Dr. Martin Hochholzer (Leipzig) betrachtet diese Dynamik aus
theologischer Perspektive und wirft sinngemäß die Frage auf: Sind die
charismatischen Erfahrungen in den christlichen Kirchen ein Zeichen der
Wiederentdeckung des Heiligen Geistes nach dem Motto: „Alle sozialen
und intellektuellen Veränderungen sind von der Existenz einer spirituellen
Kraft abhängig, ohne die sie nicht hätten geschehen können“ (Christopher
Dawson)?
Wird das theologische Phänomen der „Wiederentdeckung des Heiligen
Geistes“ als Anfrage an die seinsorientierten Großkirchen gesehen, so
kann festgestellt werden, dass die traditionellen Großkirchen es sich nicht
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mehr leisten können, gegenüber der Pfingstbewegung Verachtung und
Ignoranz zu zeigen. Auch wenn innerhalb der Pfingstbewegungen die
Dialogangebote seitens der Großkirchen unterschiedlich wahrgenommen
werden, sollten sie doch nicht aufhören – vor allem auf theologischer
Ebene – sich weiterhin denkerisch damit auseinanderzusetzen, um sich
der Wahrheit anzunähern. Einen ehrlichen Dialog sollen sie pflegen im
Wissen darum, dass es nicht einfach ist, einen Dialogmodus zu finden,
der allen Betroffenen gerecht wird, da bei den Pfingstbewegungen die
Heterogenität und die Wandelbarkeit ihre Existenz so sehr prägend sind.
Trotz mancher negativer Schlagzeilen in der stürmischen Entwicklung
der Pfingstbewegungen kommt Esther Berg (Frankfurt) zur Überzeugung,
dass das Phänomen dieser stürmischen Bewegungen die traditionellen
Großkirchen zum Nachdenken bringen kann, wie sie auf die Sinnfragen
und religiösen Bedürfnisse moderner Menschen in einer globalisierten
Welt Antwort finden können. Zeigt nicht dieses Phänomen eine große
Sehnsucht vieler nach Religion, Spiritualität und Heil?
Klar ist, dass eine Verständigung unter den Kirchen auf das gemeinsame
Ziel in dieser Zeit immer undeutlicher geworden zu sein scheint.
Das Problem liegt vielleicht darin, dass die konfessionelle Identität jeder
„Kirche“ nicht so deutlich zum Tragen kommt, sodass das „Wozu der
Einheit“ bei jedem Dialog auf dem Weg zur Einheit stets neu gefunden
werden muss. Hinzu kommt in der letzten Zeit eine weitere zentrale Herausforderung
für die „Kirchen“ überhaupt, die eng mit dem starken Anwachsen
von pentekostalischen Bewegungen verbunden ist. Kann man
hier nicht von einer „Pentekostalisierung der Ökumene“ (Kurt Kardinal
Koch) reden? Prof. Dr. Klaus Vellguth (Aachen) greift diese Frage in
seinem Beitrag auf und fordert die Großkirchen auf, eine neue Rückbesinnung
auf ihre eigene konfessionelle Identität in die Wege zu leiten.
Spielen sie bereits ihre Rolle als „Sakrament des Heiles“ in der Welt oder
steht bei ihren Handlungen mehr die Machtfrage im Vordergrund?
Mein Dank gilt allen, die zur Planung und Durchführung der Vortragsreihe
sowie zur Veröffentlichung der Vorträge beigetragen haben.
Polykarp Ulin Agan SVD
Direktor Akademie Völker und Kulturen

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