Ich habe drei Romane geschrieben.
„Ich bin nicht müde, ich bin verrückt“, „Musik stört beim Tanzen“, -„Die Poesie des Buchhalters“.
Meine an Alzheimer erkrankte Mutter war der Anlass. Sie starb 2013.
In den ersten beiden Romanen geht es um eine Frau, die im Krieg geboren wurde und ein Leben geführt hat, das ihren Möglichkeiten nicht entsprach.
Die Romane beschreiben die Umstände dieses Lebens und einen jeweils unterschiedlichen „Ausstieg“, legen einen Zusammenhang nahe zwischen Lebens-führung und der Art des Entkommens. Antworten geben sie nicht.
Bis zu ihrer jeweiligen „Flucht“ folgen beide Frauen ein und demselben Lebens-modell. Davon unerfüllt, steigen sie, im Innern verzweifelt, auf unterschiedliche Weise aus. Dementsprechend sind der Umgang damit, und die Schluss-folgerungen: Die eine wird krank, die andere flüchtet sich in eine Krankheit, die sie nicht hat.
Die eine vergisst und weiß nichts mehr, die andere vergisst, weil sie das, was sie weiß, nicht mehr wissen will.
Für beide bestimmt das Vergessen den Blick auf ihr bisheriges Leben, auf sich selbst und auf nahestehende Menschen.
Dieser Blick kann vernichtend oder befreiend sein. Vernichtend durch den Verlust von Sprache und der eigenen Geschichte, befreiend von gelebten Zwängen und dem Entdecken neuer Worte für die Liebe.
Zwei Leben, zwei Thesen, die sich „nur“ unterscheiden durch die vermeintliche Wahl des Ausstiegs.
Der dritte Roman „Die Poesie des Buchhalters“ schildert ein Paar, das zusammenlebt und sich nicht versteht. Worte helfen nicht, reichen nicht aus. Also schweigt er und lässt sich nicht ein, sie klagt darüber und verliert sich in Projektionen über das, was er möglicherweise heimlich tut.
Die normale Sprache genügt nicht. Sie müssen etwas anderes tun, um sich zu -verständigen, und finden einen Weg: Er schreibt, und sie liest.
In all den Texten geht es um das Leben, den Versuch es richtig zu machen und den Verlust. Und es geht um die Wahl der Worte, mit denen wir unser Denken und Tun beschreiben, um die Sprache, mit der wir uns erklären und preisgeben. Tun wir das nicht, geht es um die Folgen.
Die Texte sind Bekenntnisse subjektiver Wahrheiten.
Ich habe sie geschrieben und dann wollte ich sehen, wie sie aussehen; welche Gestalt diese Wahrheiten haben.
Auf 94 fast einen Meter hohe Papierbögen habe ich den Text „Ich bin nicht müde, ich bin verrückt“ mit Bleistift übertragen.
Die Handschrift verrät, was der Protagonistin so lange verschwiegen blieb: die Wahrheit über den Grund ihrer Verzweiflung und den Prozess des sicheren Verfalls. Wut, Angst, Trauer, Vergessen, das Nachlassen aller Fähigkeiten, das Alleinsein, das nicht mehr wissen, nicht mehr können … man sieht es in der Handschrift, Ausdruck eines großen Schmerzes und einer aussichtslosen Denkarbeit; jedes Blatt eine Zeichnung, teilweise unleserlich, teilweise penibel an Gelerntem festhaltend, in Kinderschrift, Gekritzel, verzweifelte Ausstreichungen. Die Worte wanken, warten, überlagern sich, werden spindeldünn und kraftlos, dann wieder kindlich, unbeholfen, breit und schief. Die Schrift verläuft mal gestaucht, mal gesperrt, verlässt Spalten, die zuvor noch da zu sein schienen und kippt aus angenommenen Linien. Dazwischen liegen unbeschriebene Flächen wie blinde Flecken.
Da fehlen die Worte.
Der zweite Text „Musik stört beim Tanzen“ – ein Tagebuch der Protagonistin aus der Zeit November 2004 bis August 2006 – markiert mit 900 kleinen, mit Bleistift geschriebenen Zetteln einen langen Weg. Die quälende Menge dieser Blätter, mit einer fast gleichförmigen Schrift auf karierten, linierten oder Blanko-Zetteln, manchmal verknittert, verschmutzt und bleistiftverschmiert, erzählt von langen Nächten des Schreibens, Zweifelns und Haderns, von endloser Zeit der Selbstfindung, und schließlich von der Wiederentdeckung und vom Wert des Lebens.
Der dritte Text „Die Poesie des Buchhalters“ zeigt über tausend weiße und gelbe Kartei-karten unterschiedlicher Größe. Hier ist die Sicht des Protagonisten auf das gemeinsame Leben penibel in Druckbuchstaben festgehalten. Jede Karte, darauf jeder Satz sind nummeriert, sie folgen einer undurchsichtigen Textdramaturgie, die nur er versteht. Hilfsmittel zur Strukturierung des Inhalts, wie Pfeile, die auf andere Karten verweisen, Unterstreichungen, Wort- und Zeilenlücken entfremden die Botschaften. Demgegenüber hängt die Sicht der Frau auf Hunderten von weißen Trennkarten an roten langen Fäden von der Decke herab, mit schwarzem Filzstift in unpräten-tiöser Mädchenschrift geschrieben und versehen mit seltsam exzessiven Aus-streichungen, die wie Aussetzer in gleichförmiger Textlandschaft wirken. Eine undurchsichtige Harmonie, ein Nebeneinander mit fast autistischem Gebaren auf der einen, unbeholfener Grobheit auf der anderen Seite, ohne gemeinsame Sprache und doch zusammen.
Durch die Visualisierung der Texte habe ich die Romane ein zweites Mal geschrieben. Der Bleistift schreibt sie neu, für jeden, der mit ihm den Tanz über die Fläche wagt.
Ulrike Damm