O. M. Bidjanbek

O. M. Bidjanbek von Gatteschi,  Letizia
Das Atelier Auf dem Weg zu Mahmouds Atelier, zwischen Isarvorstadt und Altstadt, umfängt mich eine angenehme Atmosphäre, die mit der Hektik der Großstadt wenig gemeinsam hat. Allein das Nebeneinander von avantgardistischen, kleinen Boutiquen, Büchereien mit einem alternativen Sortiment, gemütlichen Cafès und Bistros, wo zuweilen Tänzer und Sänger aus dem nahegelegenen Gärtnerplatz-Theater anzutreffen sind, nebst Koscher-Lebens-mittelläden, türkischen Obst- und Gemüsemärkten, fernöstlichen Restaurants, ja selbst das ältere Straßenpflaster vermitteln einem Fremden das Gefühl, er sei nicht fremd hier, er sei Teil dieser ganz eigenen pluralistischen Kultur Münchens!Hier mitten drin, im letzten Drittel der Baaderstraße in der Nähe des charakteristischen Viktualienmarkts, finde ich Mahmouds Atelier. Auf einem von der Ladentür abstehenden Türschildchen, steht in kunstvoll verzierten schwarzen Lettern: „Galerie O. M. Bidjanbek“. Ein Blick auf die Vitrine vermittelt mir bereits einen ersten Eindruck des künstlerischen Angebots im Inneren: naturbelassene Plastiken aus Stein oder Ton, in seltsamen Stellungen und mit ungewöhnlichen Ausdrucksweisen sind zu sehen. Sie erinnern an antike Gottheiten oder apothropäische Monster, wie sie an Portalen von romanischen Kathedralen abgebildet wurden, um „das Übel vom Haus Gottes“ abzuwehren. Beim Herunterziehen der Klinke an der Holztür ertönt ein Klingelzeichen, um anzukündigen, dass jemand diese eigentümliche, steinerne Welt gerade betreten hat.Ich stehe zum ersten Mal zwischen einigen beeindruckenden männlichen und weiblichen Figuren aus Bronze: „Kouroi und Koreen“ nannten sie die alten Griechen. Die vielen Ton- und Steinfiguren lassen mich an metaphysische Wesen aus früheren Kulturen denken. Eine in leichten Pastelltönen bemalte Herme, die von einem weiblichen Portrait mit regelmäßigen, klassischen Zügen bekrönt wird, ähnelt wiederum jenen weiblichen Gottheiten aus dem ägyptischen Totenkult. Unverkennbar sind für mich die Züge einer langjährigen Freundin, die dafür in den 70er Jahren Modell stand. Rundherum sind zahlreiche, hellblau bis grünlich glasierte Keramikschalen und Gefäße von kleinerem Format auf Regale postiert. Allmählich gewinne ich den Eindruck, ich sei durch eine Zeitmaschine in den Räumlichkeiten einer antiken Sammlung angelangt, deren Werke zwar in der Gegenwart geschaffen wurden, aber ihrer Wirkung nach meine Phantasie in ferne Welten und Zeiten transponiert haben. In diesem ersten Raum der Galerie sind alle vollendeten Werke ausgestellt, die zwischen den 70er und 90er Jahre angefertigt wurden, wie mir Mahmoud später bestätigen wird. Das macht mich auf den dahinter liegenden Raum umso mehr neugierig, denn da muss sich das Atelier befinden, wo die neueren, beziehungsweise auch die unvollendeten Gebilde stehen müßten! Ich bin vor allem auf das „non finito“ gespannt, denn darin äußert sich wohl am deutlichsten der künstlerische Schaffensprozess! Mahmoud kommt mir entgegen, indem er die hölzerne Tür zum zweiten Raum öffnet und die paar Stufen hinuntersteigt, die die beiden Räume verbinden. Nachdem wir uns herzlichst begrüßt haben, macht er mich darauf aufmerksam, dass das Rauchen nur in diesem ersten Raum möglich ist, geleitet mich währenddessen in das Atelier und zeigt auf die großen Fenster „die aber nicht zu öffnen sind“. „Ach – das macht nichts – ich bin eh eine Gelegenheitsraucherin“ und außerdem – an ein solch „irdisches“ Bedürfnis hätte ich gar nicht gedacht! Viel wichtiger ist für mich, daß wir uns endlich in dem „Schaffensraum“ befinden. Da steht bereits einiges unter geheimnisvollen Plastikhüllen. Ich bin gespannt, welches der Gebilde er als erstes enthüllen wird. Aber es ist noch nicht ganz so weit! Zuerst gibt es Tee und Kekse und einen kleinen Schwatz über unsere früheren Zeiten der Kunstakademie und der Schwabinger Künstlerparties, über unsere gemeinsamen, langjährigen Freunde, unsere gegenwärtigen Bekannten und deren Familien und Kinder.Dabei nehme ich auf einem gemütlichen, kissenbelegten Sofa an der Stirnwand im hinteren Teil des Ateliers, neben dem gusseisernen Ofen Platz. Diese vielen bunten Kissen aus seidenen und samtenen Stoffen in den warmen Farben rot und gelb, die Bilder an den Wänden, die mit kräftigen Pinselstrichen in ebensolchen Farben bemalt sind, Votivgegenstände sowohl aus dem westlichen als auch aus dem nahöstlichen Religionskreis stammend, prägen die Atmosphäre des gesamten Ambientes in einem geographischen Sinn.Ein solcher bazarartig ausgestatteter Raum könnte sich irgendwo in einer märchenhaften Stadt zwischen Kairo und Samarkand befinden. Die dazugehörige Wärme kommt zwar von einem typisch nordeuropäischen gusseisernen Ofen, aber ansonsten glaubt man nicht so recht, man wäre noch in dem mitteleuropäischen München! Es ist, wie soll ich sagen, eine Welt für sich, in die man eintritt, eine Welt, deren Atmosphäre einen wie ein kuscheliger Mantel umhüllt, aus dem man nicht so schnell wieder entschlüpfen will. Ich bin erstaunt über das Unerwartete und zugleich bezaubert!Wie zufällig entdecke ich auf einem Beistelltischchen neben dem Sofa ein Büchlein, das die mystischen Weisheiten des Khalil Gibran enthält. Ich öffne es, während ich auf den Tee warte, und entdecke die bekannten Verse über die Kinder, die zwar die eigenen sind, uns aber nicht gehören. Sie gehören der Welt insgesamt, wie auch die Kunstwerke, die zwar von ihrem Erzeuger stammen, aber dann ein eigenes Leben, ein eigenes Wirken in Bezug auf ihren Betrachter entwickeln, etwas, was der Künstler selbst letztendlich nicht mehr steuern kann. Darin steckt wohl der Gedanke der individuellen Freiheit, die jedes Ding und, um so mehr jeder Mensch in sich trägt, mittels der es wiederum möglich wird, sich selbst, die Welt und die gesamten Dinge rund um uns ohne Einschränkungen wahrzunehmen. Zwischen den vielen verhüllten und unverhüllten Figuren sehe ich auch eine Drehscheibe, die wohl zum Drehen und Formen des Tons dient. Der Holzboden des Ateliers ist von jenem feinen Staub belegt, wie ich ihn aus den Marmorwerkstätten von Carrara kenne. Es ist eine feine, bräunliche Schicht aus getrockneten Tonpartikeln, wie ein feiner Sand, aus dem die meisten ringsum stehenden Plastiken hergestellt werden, wie mir Mahmoud erklärt.Besonders beeindruckend ist die Aufstellung der kürzlich fertiggestellten Werke auf der wohl eigens dafür konstruierten Empore, die sich wie ein schützendes Dach über die Sitzecke im hinteren Raumteil mansardenartig erstreckt. Die mit majestätischer Miene auf den Besucher blickenden Figuren, die mit ihren akkuraten Verzierungen und ihrer Machart nach, an jene verschwundenen Tempel aus der mesopotamisch-phönikischen Kultur gemahnen, scheinen nun, wie durch ein „Wunder“ in Mahmouds Werkstatt vom Neuem geboren worden zu sein!Der Eindruck, man stünde in einem im Laufe der Jahrhunderte versandeten heiligen Tempelbezirk irgendwo im Mittelmeerraum, drängt sich vor dem inneren Auge des Besuchers auf. Es ist als befinde man sich dort, in jenen heutzutage als archäologische Zonen deklarierten Bezirken, außerhalb der Hektik der modernen Metropolen, zwischen Süditalien und Griechenland, zwischen Ägypten und Persien, zwischen Nil und Euphrat, wo man neben zahlreichen Resten von Säulen und Basen, die wie zufällig auf dem struppigen von der Sonne verbrannten Gras verstreut am Boden liegen, auch Vasen und Figuren von Gottheiten, Halbgottheiten und “gemeinen“ Sterblichen findet, die von emsigen Archäologen, Altertumsforscher und deren Assistenten und Lohnarbeitern, nach aufwendigem Restauri wieder aufgestellt wurden.In dieser archaisch anmutenden und dennoch sehr diesseitig postmodernen Atmosphäre eines Künstlerateliers, das in der ausgehenden Hippie-Zeit entstand, arbeitet der Künstler als Schöpfer seiner zuweilen historischmystisch wirkenden Gebilde. Aus dem feuchtnassen Ton entstehen diese Gebilde in einem mühsamen Prozess, an dem nicht nur die Künstlerhände beteiligt sind, sondern um so mehr die Phantasie, die sowohl aus der Erinnerung an die Vergangenheit, als auch aus dem gegenwärtigen Erleben und der Vorstellung der Zukunft schöpft.Und nun ist es so weit! Die Drehscheibe, die sowohl zum Arbeiten als auch zum Präsentieren dient, wird in die Raummitte gestellt und darauf wird die erste Plastik aufgestellt und. enthüllt! Hier muss ich voranschicken, dass der „Schöpfer“ selbst, seinen Schöpfungen keinerlei Namen geben will, denn der Betrachter ist der eigentliche Vollender des Ganzen. Ihm, also in diesem Fall mir, gebührt die Ehre der Namens- bzw. Titelgebung.Beim langsamen Drehen der Scheibe fällt mir auf, dass es um mehr als um einen bloßen Titel geht, hier handelt es sich um eine Geschichte. Von allen Seiten werden die verschiedenen Aspekte ein und desselben Werkes in der dritten Dimension offenkundig und verlangen nach einer Erzählung, die sich peu a peu mit der Betrachtung der einzelnen Ansichten des Werkes, von der unteren Basis nach oben hin, zum ihn umstehenden realen Raum der Betrachtungsebene entwickelt.
Aktualisiert: 2020-03-11
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