Aus dem Vorwort von Maria Goudsblom-Oestreicher
Ein einmaliger Arzt-Kalender
Fast fünfzig Jahre hat das Konzentrationslager-Tagebuch meines Vaters Felix Hermann Oestreicher in einem Schrank gelegen, zusammen mit anderen seiner persönlichen Papiere und Tagebücher. Es ist ein kleines Büchlein in einem abgegriffenen Lederetui. Immer wieder schaute ich es an und versuchte es zu lesen, was mir jedoch unmöglich war. Ich konnte die zumeist mit Bleistift unter einer Lupe geschriebenen Buchstaben in deutscher Handschrift einfach nicht entziffern. So legte ich das Tagebuch wieder beiseite und vergaß es.
Ich wusste ja aus eigenem Erleben, wie es gewesen war, wie das Lager Bergen-Belsen aussah, und ich hatte lange Zeit nicht das Bedürfnis, daran erinnert zu werden. Meine Schwester Beate und ich hatten dieses Büchlein aus Tröbitz nach Amsterdam mitgenommen, wie mein Vater es wünschte, als er selbst krank wurde, nachdem unsere Mutter schon an Flecktyphus gestorben war. Vater starb bald darauf im Hospital.
Als ich im Frühjahr 1994 einmal beiläufig meiner Freundin Anneliese Nassuth - die aus Deutschland stammt, aber seit Jahren in Amsterdam wohnt - davon erzählte, meinte sie: "Vielleicht kann ich es lesen." Nicht nur konnte sie die Handschrift lesen, sie war auch bereit, mehr als ein Jahr daran zu arbeiten, um die Entzifferung zu ermöglichen. Jetzt kann auch ich die Handschrift lesen, nachdem ich jede von meiner Freundin entzifferte Seite abgetippt hatte. Noch nicht jedes Wort konnte verstanden werden, aber das meiste immerhin. Unsere gemeinsame Arbeit liegt hiermit vor.
Das Tagebuch beginnt mit dem Tag unserer Verhaftung am 1. November 1943; der letzte Eintrag ist vom 21. Mai 1945. Am 31. Mai 1945 starb unsere Mutter, Gerda Oestreicher-Laqueur, 39 Jahre alt, in Tröbitz, Schildastraße 12, und am 9. Juni 1945 starb unser Vater, Felix Hermann Oestreicher, 51 Jahre alt. Beate, damals 10 Jahre alt, und ich, gerade 9 Jahre alt, wurden von Freunden unserer Eltern von Tröbitz nach Amsterdam gebracht. Dort trafen wir meine Zwillingsschwester Helly, welche die vergangenen Jahre bei einer Bauernfamilie "untergetaucht" überlebt hatte.
Mein Vater hatte sicherlich die Absicht, den Text seines Tagebuches für seine Memoiren über diese Zeit zu benutzen, wie sie auch andere später geschrieben haben. Jetzt liegen nur Daten seines Tagebuchs vor, die nackten Tatsachen des schrecklichen Lebens dieser Zeit. Die Registrierung der täglichen Verpflegung, die harte Arbeit im "Schuh-Kommando", die immer geringeren Möglichkeiten, sich als Arzt um seine Patienten wirklich kümmern zu können, der Ärger mit den Kollegen, der Schmutz und Hunger, das schwierige Verhältnis zu seiner Frau, das alles ist auch mir in Erinnerung geblieben. So war es seinerzeit.
Aber ich erinnere mich auch, dass mein Vater uns Kindern, wie er schreibt, die griechischen Heldensagen und so viele andere Geschichten erzählte, dass er aus der Bibel vorlas, ohne etwas wegzulassen. Diese Geschichten und die Sorge unserer Mutter und Großmutter haben Beates und mein Überleben ermöglicht. Und diese Erzählungen lassen mich an jene Zeit zurückdenken, nicht nur als farblose und traurige Welt, sondern auch als Erlebnis, das mir die Erfahrung brachte, dass es auf dieser Welt sehr viel Schönes und Erfreuliches gibt und auch gute Menschen.
(…)
Als die Abschrift im Juni 1997 fertig war, gab ich sie zuerst meiner Schwester Beate, die sie jedoch nicht mehr richtig lesen konnte, weil sie schon sehr krank war. Sie starb am 29. September 1997 an Krebs. Sie sagte nur: "Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten wie du, sondern nur, dass ich immerfort Angst hatte." Wir hatten uns eigentlich sehr wenig über diese gemeinsame Zeit im Lager unterhalten.
Ende 1998 habe ich den Text schließlich Roy Wiehn geschickt, ich kannte ihn schon viele Jahre, wusste auch von seiner Arbeit und seiner Leidenschaft für das Schicksal der Juden während dieser schrecklichen Jahre des Krieges 1939-1945. Roy war sofort bereit, das Tagebuch meines Vaters in seiner Publikationsreihe herauszugeben. Ich bin ihm dafür sehr dankbar, und es hat mich sehr gefreut, dass wir so gut zusammenarbeiten konnten.
Die meisten Fotos in diesem Buch stammen von meiner Tante Mariechen, der Fotografin Maria Austria (Maria Oestreicher, 1915-1975, Schwester meines Vaters), die uns als Kinder wie später auch meine Kinder oft fotografierte; das Copyright dieser Fotos gehört jetzt dem 'Maria Austria Instituut' in Amsterdam.
Meine Schwester Helly sagte mir nach Lektüre der ersten Computer-Ausdrucke, dass sie das Gefühl habe, ihren Vater nun wieder ein wenig zurückzubekommen.
So war es, und so ist dieses Buch entstanden. Mein Mann Joop Goudsblom hat mir immer zugehört und diese Arbeit durch sein Mitgefühl unterstützt.
Amsterdam, im Dezember 1999
Aktualisiert: 2021-06-17
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Maria Goudsblom-Oestreicher
Ein einmaliger Arzt-Kalender
Fast fünfzig Jahre hat das Konzentrationslager-Tagebuch meines Vaters Felix Hermann Oestreicher in einem Schrank gelegen, zusammen mit anderen seiner persönlichen Papiere und Tagebücher. Es ist ein kleines Büchlein in einem abgegriffenen Lederetui. Immer wieder schaute ich es an und versuchte es zu lesen, was mir jedoch unmöglich war. Ich konnte die zumeist mit Bleistift unter einer Lupe geschriebenen Buchstaben in deutscher Handschrift einfach nicht entziffern. So legte ich das Tagebuch wieder beiseite und vergaß es.
Ich wußte ja aus eigenem Erleben, wie es gewesen war, wie das Lager Bergen-Belsen aussah, und ich hatte lange Zeit nicht das Bedürfnis, daran erinnert zu werden. Meine Schwester Beate und ich hatten dieses Büchlein aus Tröbitz nach Amsterdam mitgenommen, wie mein Vater es wünschte, als er selbst krank wurde, nachdem unsere Mutter schon an Flecktyphus gestorben war. Vater starb bald darauf im Hospital.
Als ich im Frühjahr 1994 einmal beiläufig meiner Freundin Anneliese Nassuth - die aus Deutschland stammt, aber seit Jahren in Amsterdam wohnt - davon erzäWte, meinte sie: "Vielleicht kann ich es lesen." Nicht nur konnte sie die Handschrift lesen, sie war auch bereit, mehr als ein Jahr daran zu arbeiten, um die Entzifferung zu ermöglichen. Jetzt kann auch ich die Handschrift lesen, nachdem ich jede von meiner Freundin entzifferte Seite abgetippt hatte. Noch nicht jedes Wort konnte verstanden werden, aber das meiste immerhin. Unsere gemeinsame Arbeit liegt hiermit vor.
Das Tagebuch beginnt mit dem Tag unserer Verhaftung am 1. November 1943; der letzte Eintrag ist vom 21. Mai 1945. Am 31. Mai 1945 starb unsere Mutter, Gerda Oestreicher-Laqueur, 39 Jahre alt, in Tröbitz, Schildastraße 12, und am 9. Juni 1945 starb unser Vater, Felix Hermann Oestreicher, 51 Jahre alt. Beate, damals 10 Jahre alt, und ich, gerade 9 Jahre alt, wurden von Freunden unserer Eltern von Tröbitz nach Amsterdam gebracht. Dort trafen wir meine Zwillingsschwester Helly, welche die vergangenen Jahre bei einer Bauernfamilie "untergetaucht" überlebt hatte.
Mein Vater hatte sicherlich die Absicht, den Text seines Tagebuches für seine Memoiren über diese Zeit zu benutzen, wie sie auch andere später geschrieben haben. Jetzt liegen nur Daten seines Tagebuchs vor, die nackten Tatsachen des schrecklichen Lebens dieser Zeit. Die Registrierung der täglichen Verpflegung, die harte Arbeit im "Schuh-Kommando", die immer geringeren Möglichkeiten, sich als Arzt um seine Patienten wirklich kümmern zu können, der Ärger mit den Kollegen, der Schmutz und Hunger, das schwierige Verhältnis zu seiner Frau, das alles ist auch mir in Erinnerung geblieben. So war es seinerzeit.
Aber ich erinnere mich auch, daß mein Vater uns Kindern, wie er schreibt, die griechischen Heldensagen und so viele andere Geschichten erzählte, daß er aus der Bibel vorlas, ohne etwas wegzulassen. Diese Geschichten und die Sorge unserer Murter und Großmurter haben Beates und mein Überleben ermöglicht. Und diese Erzählungen lassen mich an jene Zeit zurückdenken, nicht nur als farblose und traurige Welt, sondern auch als Erlebnis, das mir die Erfahrung brachte, daß es auf dieser Welt sehr viel Schönes und Erfreuliches gibt und auch gute Menschen.
(…)
Als die Abschrift im Juni 1997 fertig war, gab ich sie zuerst meiner Schwester Beate, die sie jedoch nicht mehr richtig lesen konnte, weil sie schon sehr krank war. Sie starb am 29. September 1997 an Krebs. Sie sagte nur: "Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten wie du, sondern nur, daß ich immerfort Angst hatte." Wir hatten uns eigentlich sehr wenig über diese gemeinsame Zeit im Lager unterhalten.
Ende 1998 habe ich den Text schließlich Roy Wiehn geschickt, ich kannte ihn schon viele Jahre, wußte auch von seiner Arbeit und seiner Leidenschaft für das Schicksal der Juden während dieser schrecklichen Jahre des Krieges 1939-1945. Roy war sofort bereit, das Tagebuch meines Vaters in seiner Publikationsreihe herauszugeben. Ich bin ihm dafür sehr dankbar, und es hat mich sehr gefreut, daß wir so gut zusammenarbeiten konnten.
Die meisten Fotos in diesem Buch stammen von meiner Tante Mariechen, der Fotografm Maria Austria (Maria Oestreicher, 1915-1975, Schwester meines Vaters), die uns als Kinder wie später auch meine Kinder oft fotografierte; das Copyright dieser Fotos gehört jetzt dem 'Maria Austria Instituut' in Amsterdam.
Meine Schwester Helly sagte mir nach Lektüre der ersten Computer-Ausdrucke, daß sie das Gefühl habe, ihren Vater nun wieder ein wenig zurückzubekommen.
So war es, und so ist dieses Buch entstanden. Mein Mann Joop Goudsblom hat mir immer zugehört und diese Arbeit durch sein Mitgefühl unterstützt.
Amsterdam, im Dezember 1999
Aktualisiert: 2020-12-10
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Ein Denkmal von und für Mutter und Tochter
Maria Goudsblom-Oestreicher, meine Frau, hat sich seit 1994 und bis wenige Monate vor ihrem Tod im Frühjahr 2009 damit beschäftigt, die Tagebücher ihrer Eltern – Dr. med. Felix Hermann Oestreicher und Gerda Margarethe Oestreicher-Laqueur – für eine Veröffentlichung zu bearbeiten. Es handelt sich dabei um Tagebücher ganz verschiedener Art. Nachdem Felix Oestreicher, seine Frau, zwei seiner kleinen Tochter und seine Mutter im November 1943 als Juden verhaftet worden waren, hatte er in den KZs Westerbork und Bergen-Belsen in einem ärztlichen Taschenkalender täglich kurze, sachliche Notizen über das Leben im Lager gemacht: über Essen, Krankheiten, Todesfälle. Alles wurde mit Bleistift im Telegrammstil notiert, offensichtlich in der Absicht, dem Autor später als Gedächtnisstütze zu dienen. Felix Oestreicher war jedoch leider nicht in der Lage, seine Einträge selbst auszuarbeiten. Nur wenige Wochen nachdem sie in Tröbitz im südlichen Brandenburg von der Roten Armee befreit worden waren, sind Gerda und Felix Oestreicher kurz nacheinander an Flecktyphus gestorben. Erst die Bemühungen Marias, unterstützt von ihrer deutschsprachigen Freundin Anneliese Nassuth, haben es ermöglicht, dass das Tagebuch mit vielen Dokumenten und Bildern ergänzt im März 2000 beim Hartung-Gorre Verlag (Konstanz) erscheinen konnte.
Gerdas Tagebücher sind ganz anderer Art und haben eine ganz andere Geschichte. Sie umfassen eine viel längere Periode, nämlich von 1918 bis 1929 und von 1938 bis 1939. Sie beginnen in konventioneller Weise: Die zwölfjährige Gerda hat ein unliniertes Heft in schönem Ledereinband mit Verschluss bekommen, wo sie ihre häuslichen und schulischen Erlebnisse niederschreiben kann. Aber schon im ersten Satz zeigt sie eine über Haus und Schule weit hinausreichende Aufmerksamkeit auch für historische Ereignisse. Es ist 16. Oktober 1918, und der Erste Weltkrieg geht zu Ende: "Viertes Kriegsjahr! Noch keine Friedensaussichten!!!" So beginnt Gerdas Tagebuch. Weniger als einen Monat später kapitulieren die Achsenmächte. Der Schock der Niederlage bringt Unruhe und Unsicherheit in ganz Deutschland, auch in Brieg, der kleinen Industriestadt südöstlich von Breslau in Schlesien, dem Wohnort von Gerdas Familie Laqueur.
Das spontane Reagieren auf Ereignisse in der großen Außenwelt ist eine der Qualitäten, die dieses Tagebuch zu etwas Besonderem machen.
Aktualisiert: 2019-12-11
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