Derf’s a bisserl mehr sein?

Derf’s a bisserl mehr sein? von Herburger,  Angelika, Schäffer,  Christine
Wenn eine Wiener Institution wie der Naschmarkt 100 Jahre alt wird, dann braucht das nicht nur ein großes Fest, sondern auch ein großes Buch. Am besten mit vielen Bildern. Das vorliegende hatte das Ziel, dem modernen Leser einen Blick in die Vergangenheit des Marktes und der Stadt Wien allgemein zu geben. Und am besten geht das mit Zeitungsartikeln und historischen Abbildungen. Unter „historisch“ verstehen wir aber auch Artikel aus dem 21. Jahrhundert – wissen Sie eigentlich, wieviel sich schon in den letzten 16 Jahren getan hat am Naschmarkt? So einiges! Und die interessantesten Schmankerln haben wir für Sie zusammengesucht. Dabei haben wir aber darauf verzichtet, die derzeitigen Naschmarkt-Standler und -Standlerinnen vorzustellen. Dafür gibt es andere Bücher (zum Beispiel Beppo Beyerls „Der Naschmarkt – Wege durch Wiens kulinarisches Herz“). Unser Buch soll Spaß machen. Wir maßen uns deshalb gar nicht an, dass unsere Artikelauswahl der Weisheit letzter Schluss ist. Im Gegenteil: Sie ist subjektiv. Alle Inhalte wurden so ausgewählt, dass sie wie auf einer großen Degustierplatte verkostet und von den Lesern genossen werden können. Für jeden gibt es ein besonders überraschendes, ungewöhnliches Häppchen. Warum wird überhaupt ein so großes Trara um den 100. Geburtstag des Naschmarktes gemacht? Das ist einfach: Er ist etwas Besonderes. Nein, kein besonderes Ärgernis, weil er zu viele Lokale und zu wenig Bio-Produkte hat, oder was die Medien gerade wieder behaupten. Er ist besonders wegen seiner Geschichte, wegen seiner Bedeutung für Wien und Wiens Einwohner. Und das nicht erst seit 100 Jahren, denn der Naschmarkt ist eigentlich viel älter. 100 Jahre lang stehen erst die grünen Pavillons an genau diesem Fleckchen Wien, aber den Naschmarkt gab es schon davor. Doch dazu später mehr, denn wir wollen uns ja mit der Besonderheit auseinandersetzen. Die erste Besonderheit kommt daher, dass er der größte Markt Wiens ist und das schon seit ewigen Zeiten. Man muss es sich einmal bewusst machen, wie groß er ist: 2,3 Hektar. Das ist um mehr als die Hälfte größer als die Fläche der Mariahilfer Straße! Die zweite Besonderheit ist seine Bekanntheit in aller Welt: Man weiß über den Naschmarkt einfach Bescheid, und als es noch Zaren in Russland gab, kam einer sogar auf Besuch, um das Treiben live mitzuerleben. Das typische Treiben am Naschmarkt ist Besonderheit Nummer drei, und hier muss ein bisschen ausgeholt werden. Denn wer an den Naschmarkt denkt, denkt meist an schlagfertige Standlerinnen, die sich absolut nichts von absolut niemandem sagen ließen. Die Märkte waren früher eine der besten Möglichkeit für Stadt-Frauen, einen Beruf auszuüben und aus dem Haus zu kommen. Ja, es gab auch männliche Händler, aber heute kennt niemand mehr ihre Namen. Was geblieben ist, sind die selbstständigen „Marktweiber“, die eine große Gosch‘n und ein noch größeres Herz hatten. Die Standlerinnen vom Naschmarkt waren so eingebrannt in die Wiener Volksseele, dass eine von ihnen sogar sein Schutzgeist wurde: Die Frau Sopherl vom Naschmarkt. Sie ist zwar eine Erfindung von Vinzenz Chiavacci, aber ihr Gemüt und ihre Art ist ganz den echten, reschen Naschmarkt-Weibern zu verdanken, von denen er sich inspirieren ließ. Die Frau Sopherl und ihre Kolleginnen machen den Naschmarkt heute immer noch zu etwas Besonderem. Die vierte Besonderheit ist, wie sehr sich die Wiener Gemütslage auf dem Naschmarkt widerspiegelt. Da ist ja die Frau Sopherl selbst das Paradebeispiel: Der Naschmarkt-Geist spricht dem Wiener-Herz stets aus der Seele. Da kann sie wenig dafür, dass der Wiener halt am liebsten motschgert. Finanzkrisen, Kriegsnöte, überbordende Innovationen, städtebauliche Meisterleistungen – auch diese Dinge haben am Naschmarkt ihren Ausdruck gefunden oder waren eng mit ihm verwoben. Gustieren Sie unsere ausgewählten Zeitungsartikel! Die fünfte Besonderheit: Die Durchmischung der Bevölkerungsschichten, der Kulturen. Und vor allem, dass das erfolgreich funktioniert. Schon vor 100 Jahren kamen Händler aus Italien, Slowenien, Slowakei, Ungarn und Kroatien zum „Magen von Wien“, um ihre Nahrungsmittel zu verkaufen, schon vor 100 Jahren begegneten sich Arme und Reiche hier, schon damals gab es Zwistigkeiten, die aber meist mit Wiener Urgemütlichkeit gelöst wurden. Heute stehen am Naschmarkt Standler aus Österreich und – dem Rest der Welt, von Westen bis Osten, von oben bis unten. Und die meisten von ihnen verstehen sich so gut, dass sie sich sogar gegenseitig in der Früh am Standl besuchen und gemeinsam frühstücken, bevor das Geschäft losgeht. Und die Freundlichkeit den Kunden gegenüber ist ja sowieso immer garantiert. Das goldene Wienerherz haben eben auch die Zuag’rasten aus Anatolien. Und nun zu den Ärgernissen am Naschmarkt. Die gibt es natürlich, aber sie beruhen meist darauf, dass sich die Leute nicht wirklich mit ihm auseinandersetzen. „Der Naschmarkt hat überhaupt keine Bio-Produkte!“ Wenn man die Standler und Standlerinnen fragt, wo sie ihre Waren herhaben, dann wird man eines Besseren belehrt. Sie bemühen sich nämlich sehr, den Wünschen ihrer Kunden nachzukommen und österreichische Qualitätsware zu verkaufen. Früher musste man übrigens die Leute förmlich dazu zwingen, Österreichisches zu kaufen – lesen Sie’s nur nach in diesem Buch. Wer sich neben den Bio-Produkten noch den Charme echter österreichischer Landwirte beim Einkauf wünscht, der kann jeden Samstag am Naschmarkt zuschlagen. Jeden Tag können unsere Bauern aber nicht da sein. Wie soll sich das denn auch ausgehen, neben der arbeitsintensiven Warenproduktion noch zusätzlich den ganzen Tag am Markt mit den Städtern zu schäkern? „Der Naschmarkt geht unter in Hummus und Falafel, und überhaupt gibt es nur mehr Lokale! Mehr Nasch als Markt!“ Dieser Spruch ist fast so kreativ wie die Einfälle der Naschmarktstandler – aber nur fast. Denn in Punkto Warenvielfalt muss sich der Naschmarkt wirklich keine Sorgen machen, das hat uns der Sprecher der MA 59 bewiesen und Sie können es im Buch weiter hinten nachlesen. Sehen Sie sich einmal in der Umgebung des Naschmarkts um. Da zählt man zwei, drei Supermärkte. Mit dem Verkauf von alltäglichen Lebensmitteln kann der Markt dann nicht mehr mithalten (da sind aber auch die Konsumenten schuld, die lieber billigst einkaufen gehen). Deshalb werden die Standler und Standlerinnen eben kreativ: Sie waren es zum Beispiel, die als erste in Wien Hummus angeboten haben. Das ging dann so gut, dass es ihnen die Supermärkte nachgemacht haben! Und was die Lokale angeht … Wussten Sie eigentlich, dass es schon ganz zu Beginn des Naschmarkts, als es noch keine festen Stände gab und die Händlerinnen ihre Waren einfach auf dem Boden ausgebreitet haben, Bradlbrater gab? Bradlbrater waren Würstelbrater, die über den Markt gegangen sind und ihre heißen Würste bei Händlern und Käufern angebracht haben. Über die hat sich keiner beschwert, im Gegenteil, man war dankbar, dass es was Warmes zu essen gab am windigen Markt. Und ganz ehrlich, selbst wenn es mehr Nasch als Markt am Naschmarkt gibt: Die Leute, die sich darüber beschweren, gehen sowieso zum Supermarkt an der Ecke und die anderen genießen die riesige Auswahl an köstlichen Speisen. So schau’n’ma aus.
Aktualisiert: 2017-06-15
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