Für mehrere Referenten ist es sinnvoller, danach zu fragen, mit welchen
sprachlichen Mitteln in Schrifttexten versucht wird, Nähe zum imaginierten Rezipienten
zu e r z e u g e n, als danach zu forschen, welche für Nähesprache charakteristische
Vertextungsverfahren und Ausdrucksformen in Schrifttexten a u ft
r e t e n. Denn die meisten Formen können nähesprachlich wie distanzsprachlich
verwendet werden. Sie demonstrieren ihren pragmalinguistischen Ansatz
mit Bezug auf den Umgang mit Überschriften und dem Personalpronomen /wir/
in programmatischen Schriften der Frauenemanzipationsbewegung der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts (Berner) und mit Anreden und Appellen in den politischen
Briefen Fanny Lewalds (Barniškienė) sowie mit Bezug auf die mittelalterliche
kompilatorische Praxis, zur Gewinnung von Gebetstexten aus Richtung weisenden
Meditationstexten solche Passagen zu isolieren, die mit einer Anrede Gottes
beginnen (Bondarko). Diesen Ansatz betonen auch Müller/Voeste und weisen
nach, dass populare Schreiber in biographischen Texten zur eigenen Sozialpositionierung
auf ursprünglich kanzleisprachliche Stilelemente und damit auf lexikalische
und syntaktische Formen mit hohem sozialen Prestige zurückgreifen.
Sie argumentieren also mit distanzsprachlicher Orientierung, die Ágel/Henning
ja nicht ausschließen, sondern bewusst zurückstellen, und dies nicht, um zu „historischer
Mündlichkeit“ bzw. „historischer Alltagssprache“ vorzudringen, sondern
um charakteristische sprechsprachlich-nähesprachliche Vertextungsverfahren
und Ausdrucksformen in historischen Texten sichtbar zu machen.
Andere Referenten nehmen den sprachstrukturellen Ansatz von Ágel/
Henning auf. Es wird gezeigt, dass in frühneuhochdeutschen autobiographischen
Texten, also in Texten mit ausgeprägter Nähe des Textproduzenten zu den Refe4
renzobjekten, ein Typ von Subjektersparung (’echtes’ pro-drop) auftritt, der in
althochdeutschen Texten mehrfach belegt ist, im gegenwärtigen Deutsch jedoch
nur noch in oberdeutschen Mundarten begegnet, in der Standardsprache dagegen
nicht zugelassen ist (Volodina). An einem Hausbuch aus dem 18. Jahrhundert
wird gezeigt, dass bei gleich bleibender persönlicher Nähe zu den Referenzobjekten
Ellipsen wie Ausrahmungen in der einen Subtextsorte schreibsprachlichen,
in der anderen Textsorte sprechsprachlichen Usus reflektieren (Balode). In
Medizinischen Rezepten bleiben mit imperativischen Formen und persönlicher
Anrede bis ins 18. Jahrhundert Formen des Unterweisungsgespräches lebendig
(Seyferth). Im Osieker Weinbuch aus dem 18. Jahrhundert zeigt sich sprechsprachlich-
mundartliche Bindung in Lautung und Lexik (Gerner).
Wie in religiös-erbaulichen Texten des 13. Jahrhunderts fremde Reden,
d.h. mündliche Äußerungen reformuliert werden und in welch hohem Maße
Christine Ebner in ihren Kurzporträts und Kurzviten sprechsprachlichen Gepflogenheiten
folgt (Brandt), wird am weitgehenden Verzicht auf Konjunktiv, Redeeinführung
und explizite Subjungierung sowie an Ganzsatzstrukturen demonstriert.
In den Abhandlungen zu Schuldrama (Hünecke) und Kasperspiel (Bieberstedt),
zwei Textsorten, die vom Dialog zwischen den beteiligten Personen
leben, wird betont, dass auch hier keine authentische Sprechsprache anzutreffen
ist, sondern sozial differenzierte Sprechsprache nach den Vorstellungen der Verfasser.
Soziale Hierarchien lassen sich im Schuldrama etwa an der Satzlänge und
im Kasperspiel an lautlichen und lexikalischen Variablen festmachen. In den
russlanddeutschen Schwänken (Moskaljuk) ist an der Opposition Literatursprache
– Dialekt häufig die funktionale Differenz von Erzähler und handelnder Person
festgemacht.
Aktualisiert: 2021-01-20
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