Historische Soziolinguistik des Deutschen / Historische Soziolinguistik des Deutschen IX

Historische Soziolinguistik des Deutschen / Historische Soziolinguistik des Deutschen IX von Brandt,  Gisela, Hundschnurscher,  Franz, Hünecke,  Rainer, Mueller,  Ulrich, Sommer,  Cornelius
Für mehrere Referenten ist es sinnvoller, danach zu fragen, mit welchen sprachlichen Mitteln in Schrifttexten versucht wird, Nähe zum imaginierten Rezipienten zu e r z e u g e n, als danach zu forschen, welche für Nähesprache charakteristische Vertextungsverfahren und Ausdrucksformen in Schrifttexten a u ft r e t e n. Denn die meisten Formen können nähesprachlich wie distanzsprachlich verwendet werden. Sie demonstrieren ihren pragmalinguistischen Ansatz mit Bezug auf den Umgang mit Überschriften und dem Personalpronomen /wir/ in programmatischen Schriften der Frauenemanzipationsbewegung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Berner) und mit Anreden und Appellen in den politischen Briefen Fanny Lewalds (Barniškienė) sowie mit Bezug auf die mittelalterliche kompilatorische Praxis, zur Gewinnung von Gebetstexten aus Richtung weisenden Meditationstexten solche Passagen zu isolieren, die mit einer Anrede Gottes beginnen (Bondarko). Diesen Ansatz betonen auch Müller/Voeste und weisen nach, dass populare Schreiber in biographischen Texten zur eigenen Sozialpositionierung auf ursprünglich kanzleisprachliche Stilelemente und damit auf lexikalische und syntaktische Formen mit hohem sozialen Prestige zurückgreifen. Sie argumentieren also mit distanzsprachlicher Orientierung, die Ágel/Henning ja nicht ausschließen, sondern bewusst zurückstellen, und dies nicht, um zu „historischer Mündlichkeit“ bzw. „historischer Alltagssprache“ vorzudringen, sondern um charakteristische sprechsprachlich-nähesprachliche Vertextungsverfahren und Ausdrucksformen in historischen Texten sichtbar zu machen. Andere Referenten nehmen den sprachstrukturellen Ansatz von Ágel/ Henning auf. Es wird gezeigt, dass in frühneuhochdeutschen autobiographischen Texten, also in Texten mit ausgeprägter Nähe des Textproduzenten zu den Refe4 renzobjekten, ein Typ von Subjektersparung (’echtes’ pro-drop) auftritt, der in althochdeutschen Texten mehrfach belegt ist, im gegenwärtigen Deutsch jedoch nur noch in oberdeutschen Mundarten begegnet, in der Standardsprache dagegen nicht zugelassen ist (Volodina). An einem Hausbuch aus dem 18. Jahrhundert wird gezeigt, dass bei gleich bleibender persönlicher Nähe zu den Referenzobjekten Ellipsen wie Ausrahmungen in der einen Subtextsorte schreibsprachlichen, in der anderen Textsorte sprechsprachlichen Usus reflektieren (Balode). In Medizinischen Rezepten bleiben mit imperativischen Formen und persönlicher Anrede bis ins 18. Jahrhundert Formen des Unterweisungsgespräches lebendig (Seyferth). Im Osieker Weinbuch aus dem 18. Jahrhundert zeigt sich sprechsprachlich- mundartliche Bindung in Lautung und Lexik (Gerner). Wie in religiös-erbaulichen Texten des 13. Jahrhunderts fremde Reden, d.h. mündliche Äußerungen reformuliert werden und in welch hohem Maße Christine Ebner in ihren Kurzporträts und Kurzviten sprechsprachlichen Gepflogenheiten folgt (Brandt), wird am weitgehenden Verzicht auf Konjunktiv, Redeeinführung und explizite Subjungierung sowie an Ganzsatzstrukturen demonstriert. In den Abhandlungen zu Schuldrama (Hünecke) und Kasperspiel (Bieberstedt), zwei Textsorten, die vom Dialog zwischen den beteiligten Personen leben, wird betont, dass auch hier keine authentische Sprechsprache anzutreffen ist, sondern sozial differenzierte Sprechsprache nach den Vorstellungen der Verfasser. Soziale Hierarchien lassen sich im Schuldrama etwa an der Satzlänge und im Kasperspiel an lautlichen und lexikalischen Variablen festmachen. In den russlanddeutschen Schwänken (Moskaljuk) ist an der Opposition Literatursprache – Dialekt häufig die funktionale Differenz von Erzähler und handelnder Person festgemacht.
Aktualisiert: 2021-01-20
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