Anton Bruckner.

Anton Bruckner. von Kohrs,  Klaus Heinrich
Anton Bruckner »ist ein armer verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben« – dieser Satz von Johannes Brahms reißt schlaglichtartig eine unüberbrückbare Kluft auf zwischen dem ins gehobene Bildungsbürgertum integrierten Komponisten, in dessen Arbeitszimmer über dem Schreibtisch ein Reproduktionsstich der Mona Lisa und über dem Sofa ein Stich der Sixtinischen Madonna hing, und dem gesellschaftlich nur schwer einzuordnenden Bruckner, in dessen karg möblierter Wohnung sich hinter einem grünen Vorhang ein Foto der toten Mutter auf dem Sterbebett verbarg. Was es heißen könne, daß nach dem Ende unserer Zeit eine unausdenkbare Ewigkeit beginnt, wie Unermeßlichkeit musikalisch zu formulieren sei, darum kreisen Bruckners Reflexionen, die vor keinem Grenzgedanken zurückschrecken – so wie ihn auch Katastrophen oder die menschenleere, unvorstellbare Weite des Nordmeers und dessen letzte Inseln obsessiv beschäftigen. Schließlich ist es der Gedanke an den Allesvernichter Tod, der ihn zunehmend bedrängt und der zu einem Thema der letzten beiden Symphonien wird. Wie die Musik diese Abenteuer des Denkens und der Imagination, die eine nicht stillzustellende Krisendynamik erzeugen, strukturhomolog realisiert, soll hier gezeigt werden. Bruckner war alles andere als ein »Musikant Gottes«. Die durch zahlreiche Erinnerungsberichte und Anekdoten korrumpierte Vorstellung vom Menschen Bruckner bedarf noch immer einer rigorosen Kritik. Er war ein Krisenkomponist par excellence. Dies tritt umso mehr hervor, je strikter mit den Quellen verfahren wird. Kunst entsteht nicht aus der Ergebung in fromme Kontemplation dogmatischer Inhalte, sondern auf der Schwelle zum Unausdenkbaren, auf der es sich mit allen Kräften des Ichs zu halten gilt.
Aktualisiert: 2019-03-15
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Berlioz 1 und Berlioz 2

Berlioz 1 und Berlioz 2 von Kohrs,  Klaus Heinrich
Hector Berlioz / Autobiographie als Kunstentwurf Künstlerisches Handeln am Beginn der Moderne: Niemand aus der Generation vor Baudelaire hat so radikal wie Hector Berlioz das Problem der Selbstkonstitution des Künstlers zum zentralen Thema aller Produktion gemacht. Chateaubriands Melancholie der zu spät gekommenen Generation setzt er Metaphern des Pioniertums und der Entdeckungsreise entgegen. Mit dem zutiefst bewunderten Beethoven liefert er sich einen lebenslangen Kampf um einen 'anderen Weg' der Instrumentalmusik. Die fundamentalen Erfahrungen von Diskontinuität, Inkohärenz, Absturz der freigelassenen Einbildungskraft und des Verstummens modelliert er in großen Szenen, deren Strukturen die autobiographische Konstruktion ebenso bestimmen wie die musikalischen Werke. Erstmalig wird hier die Einheit des künstlerischen Handelns dieses großen Protagonisten der Moderne rekonstruiert. Briefe, Feuilletons, phantastische Erzählungen, die Memoiren und die Kompositionen werden als Texte von grundsätzlich gleicher Wertigkeit behandelt, deren Strukturhomologien, sind sie einmal entschlüsselt, eben diese Einheit hervortreten lassen. Hector Berlioz’ Les Troyens / Ein Dialog mit Vergil Berlioz’ große, 1856–58 geschriebene fünfaktige Oper Les Troyens (Die Trojaner), ein Hauptwerk des 19. Jahrhunderts, das sich mit Wagners Ring des Nibelungen messen kann, hat lange auf ihre Entdeckung warten müssen. In den letzten zehn Jahren nun konnte man (nach der Pioniertat von Colin Davis an Covent Garden vom Ende der sechziger Jahre) eine triumphale Kette von Aufführungen erleben: in Salzburg, Amsterdam, Paris, Leipzig, Mannheim, Düsseldorf, Genf, Stuttgart, St. Petersburg, Valencia, Berlin usw. Ein monographischer Versuch über dieses vielschichtige Werk männlichen Wahns, weiblicher Schicksalsgröße und kindlicher Schutzlosigkeit ist aber seit Ian Kemps Sammelband von 1988 nicht mehr unternommen worden. Das Buch rekonstruiert die „Bildungsgeschichte“ des enthusiastischen Vergil-Lesers Berlioz, der seinen Stoff den Büchern 1, 2 und 4 der Aeneis entnahm, aber zugleich Vergils ganzes Epos ständig im Blick hatte – er kannte es par cœur. Durch vielfache Allusionen und Transformationen, in die auch Shakespeare, Chateaubriand, Lamartine, Homer und Aischylos eingehen, wächst seinen Figuren in einzigartiger Weise Sensibilität, Verletzlichkeit und Integrität in der höchsten Bedrängnis zu. Verschiedene Szenenkomplexe werden unter diesen Leitbegriffen analysiert: die ergreifende Pantomime von Hectors Witwe Andromache mit ihrem kleinen Sohn Astyanax zum Solo der Klarinette; Cassandras am Ende gelingendes Prophetentum, wenn die rohe Gewalt in die Stadt einbricht; das Stillwerden von Didos Puls vor ihrem unausweichlichen Tod; das Schicksal des einfachen, unfreiwilligen Matrosen Hylas, den es aus den heimatlichen Bergen in eine ihm fremde Welt der Kriege und Ambitionen verschlagen hat; die Beschwörung einer ins Sakrale gehobenen Liebe, die den Keim des Scheiterns immer schon in sich trug.
Aktualisiert: 2019-03-15
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