„Lass uns spazieren gehen“, sagte Mama und nahm mich an die Hand. Spazieren gehen war gut. In 15 Minuten verbrauchte man fast 70 Kalorien. Es war heiß draußen. Ich dachte an meine Freundinnen, die alle im Freibad waren, während ich mir die Kapuze meines Pullovers tief ins Gesicht zog. „Dein Körper hat keine Energie mehr, um sich warmzuhalten“, hatte Papa mir schon vor Wochen erklärt. Mein Körper hatte tatsächlich keine Energie mehr, manchmal fiel mir sogar das Atmen schwer. „Ich kann nicht mehr“, schluchzte ich, vor meinen Augen blitzten Sterne. Den besorgten Elternaugen, ihren bohrenden Blicken, konnte ich nicht standhalten. „Chrissi, ich würde alles tun, damit du endlich wieder anfängst zu essen. Alles!“ Ich zuckte mit den Schultern, Tränen kullerten mir über die Wangen. „Es ist nicht so, dass ich nicht will“, antwortete ich vorsichtig, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht verstehen würde. „Ich kann nicht, Mama!“ Und in diesem Moment begriff ich, dass ich Hilfe brauchte. Zum ersten Mal hatte ich Angst, irgendwann nicht mehr da zu sein. Christina fühlt sich anders als die anderen Kinder. Sie will zu den zarten elfengleichen Mädchen gehören, und sie will reinpassen – in was, weiß sie selbst nicht. Mit zwölf beginnt sie, ihr Essen zu kontrollieren, mit dreizehn ist sie nur noch die Hülle von etwas, dessen Entwicklung sie bewusst zurückhielt. Sozial komplett isoliert und von der Krankheit gesteuert, begreift Christina irgendwann, dass sie gegen diese Selbstzerstörung ohne fremde Hilfe keine Chance hat. Sie entscheidet sich für den Aufenthalt in einer Kinderpsychiatrie. Dort begegnet sie weiteren jungen Patienten, die die Welt ebenfalls mit anderen Augen sehen. Sie wird Teil einer besonderen Gemeinschaft, lernt langsam, diese Krankheit zu verstehen und warum es sich doch zu leben lohnt. Die Autobiografie einer Magersucht.
Aktualisiert: 2020-09-08
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„Lass uns spazieren gehen“, sagte Mama und nahm mich an die Hand. Spazieren gehen war gut. In 15 Minuten verbrauchte man fast 70 Kalorien. Es war heiß draußen. Ich dachte an meine Freundinnen, die alle im Freibad waren, während ich mir die Kapuze meines Pullovers tief ins Gesicht zog. „Dein Körper hat keine Energie mehr, um sich warmzuhalten“, hatte Papa mir schon vor Wochen erklärt. Mein Körper hatte tatsächlich keine Energie mehr, manchmal fiel mir sogar das Atmen schwer. „Ich kann nicht mehr“, schluchzte ich, vor meinen Augen blitzten Sterne. Den besorgten Elternaugen, ihren bohrenden Blicken, konnte ich nicht standhalten. „Chrissi, ich würde alles tun, damit du endlich wieder anfängst zu essen. Alles!“ Ich zuckte mit den Schultern, Tränen kullerten mir über die Wangen. „Es ist nicht so, dass ich nicht will“, antwortete ich vorsichtig, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht verstehen würde. „Ich kann nicht, Mama!“ Und in diesem Moment begriff ich, dass ich Hilfe brauchte. Zum ersten Mal hatte ich Angst, irgendwann nicht mehr da zu sein. Christina fühlt sich anders als die anderen Kinder. Sie will zu den zarten elfengleichen Mädchen gehören, und sie will reinpassen – in was, weiß sie selbst nicht. Mit zwölf beginnt sie, ihr Essen zu kontrollieren, mit dreizehn ist sie nur noch die Hülle von etwas, dessen Entwicklung sie bewusst zurückhielt. Sozial komplett isoliert und von der Krankheit gesteuert, begreift Christina irgendwann, dass sie gegen diese Selbstzerstörung ohne fremde Hilfe keine Chance hat. Sie entscheidet sich für den Aufenthalt in einer Kinderpsychiatrie. Dort begegnet sie weiteren jungen Patienten, die die Welt ebenfalls mit anderen Augen sehen. Sie wird Teil einer besonderen Gemeinschaft, lernt langsam, diese Krankheit zu verstehen und warum es sich doch zu leben lohnt. Die Autobiografie einer Magersucht.
Aktualisiert: 2021-03-11
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