Literatur ist vor Überraschungen nicht gefeit. Jüngst noch wurde vielerorts von Corona-Tagebüchern und Corona-Romanen gesprochen, von kreativen Impulsen, die der Ausnahmezustand möglicherweise auslösen könne. Kunst macht das Leben schön, doch sie geht nicht in ihm auf und ohnedies kam alles ganz anders: Impfgegner wurden zur Partei, von den übrigen Kuriositäten, die gegen Ende dieses Jahres zu Tage traten, ganz zu schweigen. Auf vermaledeite Fragen dieser Art zu reagieren, hat Literatur nur eine Möglichkeit: Scherz, Satire und Ironie.
In einem kleinen Meisterwerk unter den achtunddreißig Beiträgen der FACETTEN 2021 begibt sich die Autorin Dominika Meindl in ihrem dreiundvierzigsten Lebensjahr, wie es feierlich augenzwinkernd heißt, nach Linz ans „Ufer unseres lieben österreichischen Mainstreams“ und erlebt Überraschendes: „Impfgegnerinnen in Bio-Linnnen, toxische junge Männer mit kahlrasierten Schädeln, grauhaarige Freikirchler, Bodybuilder mit „Fridays for Hubraum“-Shirts, irgendwo stand Gottfried Küssel, mein Gott, im Zweiten Weltkrieg gab es Extremismus von beiden Seiten, wer sind wir, über damalige Zeiten zu urteilen! Alle meine Mitmenschen trugen ihre Stammestracht mit Stolz, und ich fühlte mich wie Karl May, der hier nun zum Bruder Scharlih der Apachen werden durfte.“ Ob sich aus dieser Gegenwart tiefere Bedeutung für die Zukunft ableiten lässt, wird ohnehin den Lesern überlassen. „Auch ich bin schöpferisch – ich schöpfe Verdacht“, lautet eine alte Maxime. Sollte also diese Krise, wie es die schlüpfrige, viel zu oft missbrauchte Floskel nahelegt, nicht auch eine Chance darstellen? Warum nicht eine Partei der Leserinnen und Leser gründen?!
Diversität ist in den FACETTEN 2021 garantiert: die nur auf den ersten Blick harmlos wirkende Metaphorik der Gedichte von Renate Silberer stiftet bei genauem Lesen gehörige Verwirrung; der Dialekt im Lydia Haiders rabiatem Text lässt uns Hören und Sehen vergehen; das unablässige lyrische Sprechen eines Wilhelm Rager oder die Einebnung zwischen Kunst und Literatur, an die Christian Steinbacher in seinem „Dossier“ zum 2020 verstorbenen bildenden Künstler und Autor M.Rutt (Günther Haidinger) erinnert, stellen nur einige der vertretenen ästhetischen Positionen dar. Traditionelle Erzählungen stehen neben dem abenteuerlichen Versuch eines Hans Bednar, seine Reise in den Sudan Mitte der 1970er Jahre unter dem bezeichnenden Titel „Ich bin also im Gepäcksnetz gestorben“ in Griff zu bekommen. Der umfangreiche Text der Historikerin und Anthropologin Ortrun Veichtlbauer begibt sich auf die Suche nach einer neuen, hybriden Form des Schreibens zwischen Literatur und Geschichte. „ST. P. Eine Mikrogeschichte“ rollt in einer vielschichtigen und quellengesättigten Rekonstruktion des Lebens ihres Großvaters ein Stück „kalter“ Zeitgeschichte auf. „Mein Innviertler Opa Anton sprach zu uns Kindern kaum über den Großen Krieg seiner Jugend (…) von all dem sollte ich erst später hören, als ich erwachsen war.“ Der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wird bis heute europaweit durch Kriegerdenkmäler memoriert, zugleich aber durch die Katastrophengeschichte des Zweiten Weltkriegs überdeckt. Bekanntlich reicht unsere persönliche Erinnerung kaum über zwei Genrationen hinaus. Veichtlbauer beschreibt die Härte des Alltags im Innviertel zu Jahrhundertbeginn, die Bedeutung von Burschenschaften und Katholizismus, schließlich den Weg über die Schlachtfelder Osteuropa und des Balkans bis zur Rückkehr in die Heimat. Am Ende steht eine Frage, die an den Anfang erinnert: „Und wie geht es weiter? In Österreich herrschte 1918 Hunger.“
(, Vorwort)
Aktualisiert: 2021-12-16
Autor:
M.Rutt (Günther Haidinger),
Hans Bednar,
Isabella Breier,
Stephanie Doms,
Andrea Drumbl,
Manuel Engleder,
Eva Fischer,
Dietmar Füssel,
Kurt Gebauer,
Rudolf Habringer,
Lydia Haider,
Tamara Imlinger,
Günther Kaip,
Mario Keszner,
Erich Klein,
Magdalena Koder,
Peter Leisch,
Fritz Lichtenauer,
Dominika Meindl,
Sonja Meller,
Martin Klaus Menzinger,
Kurt Mitterndorfer,
Helmut Neundlinger,
Lisa-Viktoria Niederberger,
Ines Oppitz,
Wilhelm Rager,
Stefan Reiser,
Katharina Riese,
Birgit Rivero,
Nina Schedlmayer,
Georg Seyfried,
Renate Silberer,
Christian Steinbacher,
Herbert Christian Stöger,
Claudia Taller,
Andreas Tiefenbacher,
Ulrike Titelbach,
Ortrun Veichtlbauer,
Richard Wall,
Christian Weingärtner,
Erich Wimmer,
Katharina Zanon
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Dass Corona-Tagebücher zu einem bedeutenden Genre der Literatur würden, durfte schon im Moment ihres Entstehens bezweifelt werden. Der Klon aus Reaktionsgeschwindigkeit sozialer Medien und überstürzter Verbalisierung der persönlichen Isolation führte nur den prekären Zustand der literarischen Öffentlichkeit, der ohnedies kein neuer ist, drastisch vor Augen: Neo-Biedermeier, in dem Autorenlesungen bestenfalls durch Live-Stream ersetzt werden, und die Produktionen aus dem Elfenbeinturm ins heillose Hintertreffen geraten. Der Buchmarkt, den keiner mehr überschaut, läuft ungerührt weiter. Das „Literarische Jahrbuch der Stadt Linz“ begnügt sich stattdessen und ohne falsche Bescheidenheit mit jenem Koeffizienten, den einst Hans Magnus Enzensberger festlegte: in keinem Land und in keiner Sprache betrage die Anzahl der Leser von Dichtung seit jeher mehr als zweihundertfünfzig.
Vielleicht war es aber kein Zufall, dass dieses solitär-private Verständnis von Literatur seinen Ursprung in der existenziellen Reaktion auf eine Katastrophe hatte, die seinerzeit alle traditionellen Vorstellungen von Natur, Mensch und Welt erschütterte. Bekanntlich war es das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, auf das Voltaire mit seinem „Candide oder der Optimismus“ in Form einer Satire auf die beste aller Welten reagierte, an deren Ende eine leidige Empfehlung stand: „Es geht darum, sich um den eigenen Garten zu kümmern!“ Die Moderne war erfunden! Ob es tatsächlich das Scheitern der klassischen Fragen nach dem Bösen und dem Unheil in der Welt war, was uns noch immer zu Lesern von Anthologien macht, sei dahingestellt, doch wie anders wäre das Vergnügen bei der Lektüre des „sanften Unmenschen“ Stifter, oder die Lust an tragischen Gegenständen angesichts der „fröhlichen Apokalypsen“ aller Modernen zu erklären? Heute ließe sich dementsprechend fragen: wer wäre jenseits aller Katastrophendiagnostik mehr berufen, die intime Chronik ihrer Zeit zu verfassen als Autorinnen und Autoren?
Corona fand in die FACETTEN 2020 nur in einigen Fällen und auf rudimentäre Weise Eingang. Schließlich handelt es sich bei der Pandemie nicht nur um einen Unfall, sondern vor allem um einen Zufall unserer Lebenswelt mit nicht vorgesehenen drastischen Folgen. Als Motto über den vierunddreißig Beiträgen der diesjährigen FACETTEN könnte denn auch eines der lakonischen Fragmente von Eva Fischer stehen: „Der Zufall hat immer einen Einfall.“ Dass die Zeit für substanzielle literarische Reflexion des viralen Ausnahmezustandes noch nicht reif ist, macht der Beitrag der Autorengruppe „Original Linzer Worte“ schon im Titel deutlich: „Als wir etwas für die Facetten schreiben wollten, aber dadurch leider Linz und das System zerstört haben.“ Soweit sollte es noch kommen! Wer sich den Umständen vorsichtiger nähert, gerät wie Karin Peschkas erzählerischer Essay ins Zögern: „Und eine Reise nach Linz. Von wo? Wohin?“ Es sind vor allem Fragen, die auch in der großen Prosa-Tirade des Lyrikers Christian Steinbacher überdeutlich werden, der allerdings – allen widrigen Zuständen zum Trotz – jenes ästhetische Grundprinzip auf den Punkt bringt, dem jeder literarische Text, der diesen Namen verdient, zu folgen hat: „Daumenlutschen ist sicher eine Schwachstelle, aber Bohren in der Nase nicht minder.“ Was sonst noch bleibt ist bis auf Weiteres „Werktag“, von dem es in Richard Walls Gedicht heißt: „Apfel rot / Und Morgen blau / Der Tag lüftet seinen Hut. // Pendler stehn im Stau / Gieße mir Tee und Milch / In die Tasse. // Und warte / Bis des Nachbars Hofhund bellt / Und mir das erste Wort einfällt.“
( im Vorwort)
Aktualisiert: 2020-12-17
Autor:
Otto Johannes Adler,
Verena Dolovai,
Stephanie Doms,
Andrea Drumbl,
Ulrike Fellnhofer-Lamm,
Eva Fischer,
Angela Flam,
Dietmar Füssel,
Rudolf Habringer,
Lydia Haider,
Mario Keszner,
Erich Klein,
Peter Leisch,
Martin Klaus Menzinger,
Kurt Mitterndorfer,
Helmut Neundlinger,
Lisa-Viktoria Niederberger,
Robert Oltay,
Karin Peschka,
Hildegard Pramhas,
Susanne Purviance,
Wilhelm Rager,
Stefan Reiser,
Katharina Riese,
Benjamin Rizy,
Renate Silberer,
Christian Steinbacher,
Herbert Christian Stöger,
Ortrun Veichtlbauer,
Richard Wall,
Bernhard Widder,
Georg Wilbertz,
Katharina Wurzer,
Katharina Zanon,
Andrea Zipko
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(…) Insgesamt haben wir vom Linzer Frühling 30 Jahre daran gearbeitet Linz literaturfreundlicher zu machen. Unvorstellbar! Und das als kleiner, privater Verein!
Nun ja, unsere dritte Anthologie trägt nicht zufällig den Titel „Schlussbilanz“! Wir feiern unseren Ausstieg aus der Literaturvermittlung, wie es sich für einen Literaturverein gehört, mit einem literarischen Rückblick. Im vorliegenden Fall mit einem auf die Jahre 2006 bis 2016. Viele bekannte Namen, aber auch etliche neue, bis dato eher unbekannte werden Sie finden in unserer Abschiedsanthologie. Alle Beiträge sind wert gelesen zu werden.
Genießen Sie es, es wird keine vierte Anthologie mehr geben.
(, Obmann des Vereins Linzer Frühling)
Altmann · Amon · Anglberger · Appenzeller · Aspöck · Awadalla · Baco · Bauer · Bayer · Bichl · Brooks · Brugger · Bucher · Buttinger · Chobot · Daubenmerkl · Dellinger · Duschlbauer · Flašar · Freund · Füssel · Fussek · Gelbmann · Grill · Habringer · Hadwiger · Haidegger · Halbmayr · Hatmanstorfer · Holm · Humer · Jaeg · Jungmaier · Kaip · Kilic · Knapp · Kneifl · Köhle · Kohl · Kowatschek · Kraft · Kreslehner · Kühn · Kumpfmüller · Kurz · Lachner · Lasinger · Laznia · Leidenfrost · Mairhofer · Meindl · Menzinger · Mieze Medusa · Mini · Mitterndorfer · Naderhirn · Pachner · Peschka · Peter · Peyman · Pilar · Perkles · Pouget · Rabinovici · Raffetseder · Rasser · Schachinger · Schmid Diane · Schmid Ernst · Scholl · Sedivy · Seidlhofer · Stähr · Steinbacher · Stöger · Struhar · Taller · Taschler · Tassatti · Tiefenbacher · Wall · Weber · Weidenholzer · Welsh · Widhalm · Wimmer · Winkler · Wiplinger · Wührer · Yazdi · Zier
Aktualisiert: 2020-03-31
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