Urbanität

Urbanität von Diaconu,  Madalina, Erzen,  Jale, Gao,  Jianping, Gmainer-Pranzl,  Franz, Koch,  Andreas, Nikisianli,  Nikoleta, Roche,  Sophie, Shorny,  Michael, Smigiel,  Christian, Sonnleitner,  Julia, Welsch,  Wolfgang, Wolfgring,  Constanze
Franz Gmainer-Pranzl, Mădălina Diaconu Urbanität als Kontext und Habitus interkulturellen Philosophierens Einführung Zu den Gründungsmythen der europäischen Philosophie gehört das Philosophieren als gemeinsame Beschäftigung freier Bürger, die, wie Sokrates, nur selten und auch dann eher mit Unbehagen sich über die (eigenen) Städtemauern hinausbegeben: Die Stadt bildet somit den Soziotop und die Lebenswelt schlechthin der Philosophen. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass diese die Stadt als solche und vor allem das urbane Ethos nur ausnahmsweise thematisiert haben, und in den seltenen Fällen, in denen sie die Stadt eigens nannten, wie Descartes und Wittgenstein, diente die Stadt bloß als Metapher für etwas anderes. Auch nach der Verselbstständigung der modernen Sozialwissenschaften und der fachlichen Vervielfältigung der Stadtforschung interessierten sich für die Stadt eher Denker, die nicht zum akademischen Establishment gehörten und deren Reflexionen stark essayistisch und nicht streng wissenschaftlich verfasst wurden, wie bei Simmel, Benjamin oder Kracauer, zum Teil auch Heidegger und Lefebvre. Aktuelle Entwicklungen in die Richtung einer globalen Verstädterung fordern die Wiederaufnahme dieses Themas und dabei vor allem den Blick in den globalen Süden, wo in den letzten Jahrzehnten die höchsten Urbanisierungsraten aufgezeichnet wurden und wo sich mittlerweile auch die größten Megacities der Welt befinden. Bisher haben nicht-westliche Philosophen allerdings selten Eingang in europäische Sammelbände über die Stadt gefunden, wie etwa in City Life. Essays on Urban Culture (hg. v. Heinz Paetzold, 1997). Darüber hinaus müssen Philosophen immer noch einen spezifischen Zugang zum Thema Stadt legitimieren und dafür eigene Denkwege, Methoden und nicht zuletzt Textformate abseits der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung suchen, wie Jürgen Hasse in der von ihm 2016 herausgegebenen Nummer von »Forum Stadt« zum Thema »Philosophie der Stadt« fordert. Nichtsdestoweniger stellen aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen die Bürgerinnen und Bürger vor massive Herausforderungen, die gerade die Philosophie und insbesondere das interkulturelle Philosophieren auf den Plan rufen und auffordern, den Begriff der Urbanität sowohl im deskriptiven als auch im normativen Sinne wiederzuentdecken. »Urbanität« steht nicht nur für städtebauliche Maßnahmen, soziologische Aufforderungen oder politische Umbrüche, sondern auch für ein Lebensgefühl oder eine Lebensform und nicht zuletzt für eine interkulturell-philosophische Transformation. Die Verdichtung, Komplexität und Heterogenität des Miteinanderlebens in (Mega-)Städten bringt tiefgreifende Veränderungen für menschliche Lebenswelten, soziale Zusammenhänge und interkulturelle Begegnungen. Die verwirrende Erfahrung unübersichtlicher Pluralität, die Zumutung des Fremden, die irritierende Heterogenität sowie die paradoxe Gleichzeitigkeit von geballter Öffentlichkeit und radikaler Einsamkeit und Anonymität verändern unweigerlich die Art und Weise des Denkens, also auch der Philosophie. Von daher ist die »Stadt« nicht nur ein Thema, sondern vor allem ein Medium interkulturellen Philosophierens, und »Urbanität« wird zu einer Haltung des Philosophierens. So ist jedes Philosophieren per se insofern urban, als jegliches Denken situiert ist und die »spezialisierten« Orte des philosophischen Denkens – Akademien, Universitäten – immer noch städtische Institutionen sind. Darüber hinaus soll das Philosophieren urban werden im Sinne eines gewissen Ethos des Austausches von Ideen und Argumenten. Nicht zuletzt dient das Philosophieren im Dialog oder Polylog mit Vertretern der eigenen und anderer Kulturtraditionen nicht so sehr der Bemühung, die bestmögliche Theorie in einer geschlossenen res publica der Gelehrten zu validieren, sondern den Bürgern selbst Orientierung zu bieten. Die Stadt war immer der Ort einer Begegnung von Kulturen, die spätmodernen Metropolen und »Weltstädte« umso mehr. Auch waren in gewisser Weise Städte immer schon Orte eines Polylogs; sie boten Raum für eine von möglichst großer Offenheit, Vielseitigkeit, Vorurteilslosigkeit und Selbstkritik geprägte Form von Begegnung und Austausch und ermöglichten es, unterschiedliche Traditionen »so in einen offenen gemeinsamen Raum« zu bringen, »dass alle Positionen in diesem Polylog für Veränderungen offengehalten werden bleiben«, wie dies das Konzept unserer Zeitschrift betont. Und doch stellt eine Stadt nicht einfach ein »Laboratorium« für Polyloge dar, sondern mutet ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einiges zu, zumal die unübersichtlich gewordene Komplexität von Städten widersprüchliche Prozesse einbezieht. Einerseits steht das Urbane für die Pluralität der Lebensformen, welche Städte anfällig für soziale und kulturelle Spannungen macht, andererseits lässt sich eine Uniformierung der Stadtkultur weltweit durch die Technologie und die Medien feststellen: nicht nur die Stadtarchitektur ist international, sondern auch die Verkehrsmittel, das Fastfood, bis zu einem Punkt sogar das Design der Grünräume. Die Hybridität, Pluralität und Heterogenität des Urbanen stehen sowohl für ein Ende traditioneller Lebensformen – denken wir an Emanzipationsprozesse in Bezug auf Geschlechtsrollen – als auch für die Neukonstruktion und Inszenierung kultureller und religiöser Identitäten, die gleichzeitig mit technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auftreten können. Inwieweit führt die Materialkultur zur Emergenz einer globalen Weltkultur – mit Implikationen für die Mentalität und das Sozialverhalten –, sodass die Städte weltweit ähnlicher werden als das Stadt und das Landleben innerhalb desselben Staates? Oder führen dieselbe Technik und die neuen, inzwischen auch sozialen Medien zur »Verstädterung« der Denk-, Fühl- und Handlungsweise auch derjenigen, die nicht in den Städten leben, weil sie die Begegnung mit dem Fremden bereits vor jeglichem physischen Kontakt vermitteln? Angesichts nationalistischer und identitärer Diskurse der Gegenwart erweisen sich Städte als transkulturelles Phänomen und als Inspiration eines Kosmopolitismus – oder entstehen diese Diskurse nicht vielmehr gerade in multikulturellen Großstädten? Auch bilden migrantische Communities eigene Kulturen aus, in denen sich nicht selten die Erinnerungen an die Herkunftsländer mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der neuen Heimat auf spannende Weise vermischen; wie lassen sich diese unterschiedlichen Kulturen in die gemeinsame Stadtkultur integrieren und wie verändern sie die Stadt? Damit verbunden ist die Frage nach der Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwohl trotz der Verselbstständigung städtischer (Sub-) Kulturen. Megastädte im globalen Süden konfrontieren nicht nur mit dichter Verbauung und einem enormen Bevölkerungswachstum, sondern auch mit mangelnder Infrastruktur, dem täglichen Verkehrschaos und Armut – Erfahrungen, die zunehmend literarisch verarbeitet und soziologisch ausgewertet werden, ebenso wie es im 19. und 20. Jahrhundert für westeuropäische und nordamerikanische Städte geschah. Die architektonische und soziale Ambivalenz von Großstädten zeigt sich im mitunter krassen Unterschied zwischen einem historischen, touristisch erschlossenen Stadtzentrum und der urbanen Peripherie, die bestenfalls von Alltäglichkeit, schlimmstenfalls von Problemen wie Arbeitslosigkeit, Gewalt, Ghettoisierung und auch Verwahrlosung geprägt sind. Welche Folgen hat der boomende Städtetourismus für das Leben der Stadtbewohner und warum reagieren diese unterschiedlich auf die kaufpotenten Fremden und anderen Fremden, die von Not getrieben den Weg in die Fremde einschlagen mussten? Wo beginnt überhaupt die Fremde für die Stadtbewohner: an der Staatsgrenze? (nicht für die Kosmopoliten), an der Stadtgrenze? (auch für die Pendler und die Zweitwohnbesitzer?), an der Grenze zum nächsten Bezirk für die ethnischen Ghettos, hinter der Mauer der eigenen gated community? Wie verschränken sich überhaupt die soziale und die ethnische Stratifizierung in Großstädten und welche Chancen haben künstlich geplante und top-down errichtete sog. »interkulturelle Nachbarschaften«? Städte sind von einer eigentümlichen und auch brutalen Dialektik von Inklusion und Exklusion geprägt: sie eröffnen vielen Menschen Arbeitsund Lebensmöglichkeiten, die ihnen außerhalb der Stadt verwehrt bleiben, schließen aber gleichzeitig Menschen aus, die nicht am sozialen Leben und am Wohlstand partizipieren können, vielleicht sogar in Slums leben oder auf der Straße landen. Wie kann eine interkulturell angelegte Philosophie der Stadt dazu beitragen, dass die Bürgerpartizipation kein hohles Wort bleibt, was letztlich Implikationen auch für die physische Stadt selbst hat, etwa für das Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Räumen? Kontrastreiche Straßenbilder gehen mit einer von Widersprüchen geprägten Psychologie der Großstädter einher. Für Simmel waren vor hundert Jahren die Mischung von Distanz und Nähe, von Gereiztheit und Blasiertheit typisch. In der Gegenwart koexistiert der Rausch (des Überflusses, der allmächtigen Eventisierung) mit zunehmenden Ängsten: vor der sozialen Exklusion durch Verarmung und Arbeitslosigkeit, vor neuen Fremden, die den Wohlfahrtstaat belasten, vor dem Aussterben mancher Städte oder aber vor einer unkontrollierten demographischen Explosion anderer Städte, vor einer lauernden Gewalt, vor den Wirkungen des Klimawandels usw. Wie kann die Philosophie die populistische Instrumentalisierung dieser Atmosphären der Urbanität durch eine Anleitung zum Selbstdenken entkräften? Auch wenn sich nicht alle Städte in ihrer Mannigfaltigkeit mit denselben Problemen konfrontiert sehen – schrumpfende Städte in Westeuropa, auf anderen Kontinenten explodierende junge Städte, durch Krieg und Naturkatastrophen zerstörte Städte, post-industrielle Städte, aufstrebende Hauptstädte jüngerer Staaten etc. –, gibt es nichtsdestoweniger einen internationalen Austausch zwischen den Verwaltungen verschiedener Städte. Ein Austausch über die Urbanität bzw. ein Polylog zwischen Denkern in verschiedenen nicht-europäischen Städten war bisher ein uneingelöstes Desiderat. Wir versuchen in der vorliegenden Nummer unserer Zeitschrift, erste Schritte in diese Richtung zu setzen. So wenig es jedoch ein einziges, typisches und endgültiges Bild einer Stadt geben kann, so illusorisch wäre es auch, den Anspruch auf eine exhaustive oder systematische Thematisierung der Urbanität aus interkultureller Perspektive zu erheben. Außerdem ist zu fragen, ob das starke Interesse an der Urbanität im deutschsprachigen Raum in der jüngsten Zeit ein zeit- und kulturspezifisches Phänomen darstellt oder vielmehr mit den Denkprioritäten auf anderen Kontinenten korrespondiert. Ist die Sehnsucht nach Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit und die damit verbundene Rückkehr der Normativität in der westlichen Stadtkultur die Folge der eigenen Geschichte (das Ausleben der Befreiungswelle nach 1968, die Flüchtlingskrise und die inkriminierte Steigerung der Kriminalität) oder gibt es analoge Bestrebungen in anderen Kulturen? Bildet die Rückkehr des utopischen Denkens das Spezifikum einer Generation unserer Stadtkultur oder vielmehr das Anzeichen eines allgemeinen Um- und Aufbruchs? Die folgenden Beiträge aus anderen geographischen und disziplinären Denkräumen werden darauf eingehen. Die größte Herausforderung von Urbanität für interkulturelles Philosophieren besteht nicht zuletzt in der unausweichlichen Konfrontation mit unterschiedlichsten Erfahrungen, die zu einer interdisziplinären Herangehensweise nötigen. Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe von polylog haben sich mit einer Vielzahl solcher Erfahrungen auseinandergesetzt, die von künstlerischer Avantgarde über sprachliche Diversität und ästhetische Aspekte bis hin zu Mythen und Utopien städtischen Lebens sowie zu Strategien urbaner Raumpolitik reichen. Dementsprechend divers ist auch der Stil und das Format der Studien, von sozialwissenschaftlich und empirisch verankerter Forschung über geschichtsphilosophisch untermauerte Reflektionen bis hin zu essayistischen Aufzeichnungen von Eindrücken über die Art und Weise, wie die eigene oder eine fremde Stadt erlebt wird und über die Urbanität als Lebensform und Aufgabe. Urbanität sprengt von daher die üblichen Parameter des Polylogischen; sie konfrontiert interkulturelle Kommunikations- und Argumentationsprozesse mit verdichteten politischen, ökonomischen und sozialen Lebenskontexten und eröffnet eine neue Dimension interkulturellen Philosophierens.
Aktualisiert: 2020-12-31
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