Als sich mit der Wahl Joseph Kardinal Ratzingers zum Papst am 19. April 2005 die Weltöffentlichkeit für seine Familie näher zu interessieren begann, konzentrierte sich dieses Interesse zunächst auf seinen leiblichen Bruder Georg, der als Regensburger Domkapellmeister und Leiter der „Regensburger Domspatzen“ weltweite Anerkennung genoß. Auf den anderen Georg Ratzinger, nämlich den Großonkel, der im allzu fernen 19. Jahrhundert als Priester, Politiker, Reichs- und Landtagsabgeordneter, als Sozialreformer, Publizist und vor allem als Wirtschaftsethiker wirksam war, erstreckte sich die durch wenige Publikationen erzeugte Aufmerksamkeit lediglich auf einen kleinen Kreis von sozialethisch und sozialgeschichtlich ausgerichteten Fachleuten.
Die mikro- und makroökonomische Wissenschaft nahm kaum Notiz von Georg Ratzinger (1844-1899) und bestätigte damit das Vorurteil gegenüber jener heute an unseren Universitäten vorherrschenden Ökonomik, die lediglich an quantifizierbaren, mathematisierbaren Relationen interessiert zu sein scheint und der geschichtliche und theologische, ethische und kulturelle Zusammenhänge ziemlich gleichgültig sind. Auch wenn sich inzwischen – vor allem seit 1989 – die globale Wirtschaftsform in einem schwankenden und höchst krisenanfälligen Sinne bewegt. Die weltwirtschaftliche Krisenakkumulation, die von kaum einer der gängigen, sich gegenseitig widersprechenden modernen Theorien hinreichend geklärt oder gar geregelt zu werden scheint, bedarf einer wirtschaftsethischen Korrektur, die auf universalisierbaren und reziprok geltenden Regeln beruht.
Hier erweist sich Georg Ratzinger als ein kritischer Geist, dessen Wertkriterien sich bis heute nicht nur zur wertenden Beschreibung des Vorhandenen, sondern auch zur bewußt-verantwortlichen Mitwirkung am Aufbau politisch-ökonomischer Strukturen eignen, die in unserer Gegenwart von Belang sind. Denn seine normativen Maßstäbe, wenn sie auch vornehmlich dem Reservoir klassischer Wertbestände, besonders der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern (weniger der aristolelisch-thomistischen Tradition) entnommen sind, verdienen es schon deshalb, bis heute ernstgenommen zu werden, weil sie nicht nur den Gläubigen, sondern auch kirchlich entfremdeten Zeitgenossen plausibel erscheinen können.
Georg Ratzinger war es nur für wenige Jahrzehnte zu leben und zu wirken vergönnt. Seine Wirkungsgeschichte – über den sozialen und politischen Katholizismus seiner Zeit hinausgehend – zu ermessen, dürfte schwierig sein, zumal auch die „soziale Marktwirtschaft“, auf die man sich in Deutschland immer noch konfessionsübergreifend berufen kann, viele Väter und Großväter hat. Gewichtige Fragestellungen des 19. Jahrhunderts sind uns freilich bis heute erhalten geblieben. Beispielsweise die Frage, ob die Wirtschaftsordnungsfragen eher in kapitalistischer oder in sozialistischer Richtung zu beantworten sind, ein Problem, mit dem sich mehrere Möglichkeiten eines „Dritten Weges“ eröffnen. Diese „Systemfragen“ hängen erheblich mit dem Eigentumsbegriff zusammen und erstrecken sich auf die Zusammenhänge von Zins und Wucher, von Kapital und Arbeit, von Lohn und Gewinn, von Geld, Kredit und Währung, von Wettbewerb und staatlicher Ordnung, von Rechts- und Sozialstaat, von Armut und Reichtum.
Daß diese und andere sozialethische Fragen bis heute weithin als „umstritten“ oder gar als prinzipiell „unlösbar“ gelten, gehört zu den leidvollen Erfahrungen jener, denen es noch um Begründungen, Klärungen und Definitionen geht. Die Nähe Georg Ratzingers zu unserer Gegenwart besteht nicht in vermeintlich endgültigen Antworten auf die heutigen Herausforderungen. Seine Aktualität liegt vielmehr in der Art und Weise der Argumentation, wie diese Fragen in einem analogen Sinne angegangen werden können. Nämlich durch einen prinzipien- und wertbezogenen Dialog, der die Argumente (gerade auch der jeweiligen Gegner) sorgsam abwägt und diskutiert, um zu konsensfähigen und tragfähigen Lösungen zu kommen.
Da der geschichtlich-systematische Kontext heutiger Debatten um altbekannte wirtschaftsethische Fragen im vorherrschenden, auf kurzfristige Erfolge ausgerichteten Pragmatismus meist ausgeblendet, jedenfalls kaum hinreichend erörtert wird, ist die vorliegende Studie ein beachtlicher, anregender Beitrag zur Diskussion – nicht nur unter Ethikern. Sie beschreibt, analysiert, bewertet und aktualisiert jene Fragen, die Georg Ratzinger zu seiner Zeit bewegten und die sich bis heute als Grundfragen des Wirtschaftslebens behauptet haben. Im Mittelpunkt steht sein Hauptwerk „Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen“ (1881,1895). Dieses Werk ist wohl das erste, das sich aus christlichem Geist mit der Wirtschaftsordnung systematisch und geschichtlich beschäftigt hat.
Schon deshalb verdient die hier vorgestellte Arbeit von Dr. rer. pol. Karl-Heinz Gorges (1938-2013) Aufmerksamkeit, weil der Autor nicht lediglich Georg Ratzingers Gesamtwerk rekapituliert oder paraphrasiert, sondern es in den heutigen Problemhorizont stellt und kenntnisreich erörtert. Wenige Wochen vor seinem unerwartet frühen Tod, der ihn am 14. Juni 2013 ereilte, überreichte mir Karl-Heinz Gorges das vorliegende, nur unerheblich von mir gekürzte und korrigierte Manuskript, das eigentlich noch zu einer Doktorarbeit des diplomierten Theologen reifen sollte. Mit Georg Ratzinger hatte er sich schon seit seiner theologischen Diplomarbeit (Juli 1976, Universität München) intensiv beschäftigt, als einer der ersten – und hoffentlich nicht als einer der letzten.
Mit Joseph Kardinal Ratzinger und dem späteren, inzwischen emeritierten Papst Benedikt XVI. stand er in guter Verbindung, wovon das letzte Bild in diesem Band zeugt. Mit diesem Werk setzt das „Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ (Bonn) die Reihe seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen fort, die seit 1983 mit dem Band IX unterbrochen worden ist.