Partie an der Lippe
Das Motiv einer vor hundert Jahren versandten Bildpostkarte wirkt betagt, tatsächlich ist aber das abgebildete Objekt seit der Aufnahme gealtert, und sie zeigt seinen erheblich jüngeren Zustand. Die frühesten Heessener Foto-grafien führen zurück in politische und gesellschaftliche Verhältnisse, in denen noch Schlösser gebaut wurden. Wolfhard von Boeselager vermutete vor einigen Jahren, dass mit den Umgestaltungen des klassizistischen Landsitzes zum neugotischen Herrenhaus im beginnenden 20. Jahrhundert der letzte deutsche Schlossbau errichtet wurde. Die damals ausgeführte architektonische Rekonstruktion zu spätmittelalterlichen Formen war den Gedanken adeliger Repräsentation und westfälischer Heimatpflege* gefolgt, und das Ergebnis wurde von Zeitgenossen bereits als Postkartenmotiv wahrgenommen, das unter Überschriften wie Partie an der Lippe begrifflich weit ins Ungefähre entrückt war.
Die zeitliche Distanz, die uns von den ersten Abbildungen trennt, übersteigt die Dauer unserer Lebenserfahrung weit. Man betrachtet fremde und doch vertraute Motive mit einem leisen Verlustgefühl. Es gibt aber auch Ungereimtheiten zu entdecken. Die Ansicht mit dem Titel Haus Heessen VI. stellt ein vertrautes Gebäude dar, zeigt trotzdem etwas anderes. Es war im November 2008 im Brokhof, in der Ausstellung „Zeitreise durch Heessen“ von Ludger Moor, als ich diesem Motiv zum ersten Mal begegnet bin. Ich habe Herrn Moor auf Unstimmigkeiten in der abgebildeten Architektur angesprochen und wir einigten uns darauf, dass die Fotografie womöglich seitenverkehrt reproduziert worden sei. Die Theorie war bei genauer Betrachtung nicht zufriedenstellend; ich habe mir anschließend ein eigenes Exemplar besorgt und die technische Lösung des Rätsels bald gefunden. Entscheidende Hilfestellung für eine logische Erklärung lieferte ein zweites Motiv aus derselben Serie mit ähnlich seltsamer Bildwirkung zwei Jahre später nach, und ein Gefühl detektivischer Zufriedenheit stellte sich ein. Ich begann Ansichtskarten zu sammeln.
Der Abgleich verschiedener Aufnahmen von 1908 weist eine Planungspanne beim Bau des Kapellenturms nach. Da kümmert sich am Ufer des Schlossgrabens eine Waschfrau um Boeselagers Bettbezüge, während hinter ihr am Turm die gerade erst eingemauerten Steinkreuzfenster herausgebrochen werden. Andere Ansichtskarten dokumentieren, unter der Lupe betrachtet, Terminprobleme eines Bildhauers im selben Jahr.
Neben historischen Fotografien und widersprüchlichen Bauzeichnungen haben vor allem die Zeitzeugengespräche zu dieser Publikation viel beige-tragen. Dafür gilt mein Dank zuerst der Initiatorin der Arbeitsgemeinschaft Schlossgeschichte am Gymnasium Schloss Heessen, Dr. Jutta Berger, die viele solcher Befragungsrunden organisiert und geleitet hat; den Familien Friedhelm Wieland und Heinz Feldhaus für umfängliche und kenntnisrei-che Erzählungen; Irene Laabe, Melitta Thoms und Heinrich Kemmerling für ihre Jugenderinnerungen. Aus dem Album Feldhaus stammen etliche Aufnahmen, die vergangene Verhältnisse und Vorgänge anschaulich illus-trieren. Ein längerer Ausschnitt aus der Tonaufzeichnung eines Interviews mit Friedhelm Wieland und seine Liste der Schlossbewohner in der Nach-kriegszeit geben ein ungeschöntes Bild damaliger Wohnverhältnisse. Abgebildete Planzeichnungen zum Umbau von Schloss Heessen stammen aus dem Archiv der Eigentümerfamilie von Boeselager und sind der Arbeitsgemeinschaft Schlossgeschichte durch das Westfälische Landesarchiv in Münster zugänglich gemacht worden. Dessen Projekt Archiv und Jugend*, 2008 in Kooperation mit dem Landschulheim veranstaltet, hat mir den Anschub zur Beschäftigung mit der Heessener Vergangenheit gegeben.
Dieses Buch setzt Ausführungen zur Baugeschichte von Haus Heessen fort, die ich mit der Publikation Spurensuche im Jahr 2012 begonnen habe. Es nimmt ergänzend die Lebenssituation von Bewohnern in den Blick, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts unter der Meldeadresse Schlossstraße 1 wohnten. Es führt wieder an den Platz, der für Jahrhunderte das Zentrum des Ortes war. Hier waren einmal wirtschaftliche Macht und administrative und rechtliche Funktionen konzentriert. Solche Bedeutung hat Haus Heessen vor langer Zeit an Staat und Bergbau, Gewerbe und Industrie abgegeben; in der Baugestalt des Schlosses sind Zeugnisse einstiger Größe erhalten geblieben. Die hier vorgestellten Bilder, Erinnerungen und Kommentare laden zur Spurensuche ein.
Klaus Rübesamen
Aktualisiert: 2023-03-28
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Ein Blutsverwandter der ottonischen Kaiser namens Liudolf war nach Quellenlage der erste nachweisbare Besitzer des frühmittelalterlichen Haupthofes am Nordufer der Lippe, aus dem der westfälische Ort Heessen hervorging. Die Untersuchung zeichnet den Karriereweg Liudolfs vom Mitglied der Hofkanzlei in das Amt des neunten Osnabrücker Bischofs bis in das Rektorat des Wildeshauser Alexanderstifts nach und ordnet das Geschehen in großräumliche Bezüge ein. Aus einer Reihe von Urkunden zu Stiftungen und Besitzüberschreibungen werden Familienbeziehungen erkennbar und das in seinen letzten drei Lebensjahren zelebrierte Nachlasskonzept eines offenbar sterbenden kirchlichen Würdenträgers.
Aktualisiert: 2023-04-06
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