300 Jahre Moabit
Zur Geschichte eines Berliner Stadtteils von der hugenottischen Gründung 1718 bis zur Eingemeindung nach Berlin 1861
Bernd Hildebrandt
Einleitung: Gern würden wir wissen, wie die Akteure, die sich vor 300 Jahren im Hinteren Tiergarten niederließen, ausgesehen haben. Doch waren das arme Leute, die sich den Luxus des Porträtierens nicht leisten konnten. Deshalb können wir nur ihre Autogramme zeigen. Auch über das Aussehen ihrer Kleidung, Häuser, Hausrat, Verkehrsmittel u.ä. haben wir wenig Anschauliches zu bieten. Rund 200 Jahre später hat der Moabiter Chronist Oehlert eine umfangreiche Kollektion von Ortsmotiven zusammengetragen. Dazu gehörten Fotografien und Reproduktionen von Öl- und Porzellanbildern, Aquarellen und Zeichnungen, darunter Arbeiten des ortsansässigen Landschaftsmalers Theodor Hartmann. Stets auf der Suche nach neuen Sujets unterhielt Oehlert Kontakte zu den Familien der Einwohner und den niedergelassenen Betrieben, wie Porzellanhersteller und Maschinenbauer. Auf eine erfolgreiche Beziehung zu Borsig lässt die Tatsache schließen, dass sich im Borsig-Archiv des Berliner Technikmuseums einige Fotomotive befinden, die in der Chronik abgedruckt worden sind. Vermutlich haben Borsigs Werkfotografen auch für die Dokumentation des Lokalhistorikers Ortsansichten fotografiert, so wie sie Innen- und Außenaufnahmen ihrer Moabiter Betriebe machten. Es gab auch Fotoateliers im Stadtteil, wie seit 1864 Louis Barfuß an der Kirchstraße, wo Porträt- oder Gruppenaufnahmen mit künstlichem Licht und Kulissen angefertigt wurden. Oehlerts gesamte Sammlung ist heute spurlos verschwunden. Der letzte Krieg riss große Löcher in die preußischen Aktenbestände: Sie wurden in Flakbunker verlagert, beim Herannahen der Roten Armee in entfernte Bergwerke verbracht, etliche Bestände gingen in Flammen auf. Die Sowjets entführten Archive in die Sowjet-Union, einige gaben sie der DDR, die in Merseburg ein neues „Zentrales Staatsarchiv“ aufbaute. Viele Dokumente tragen diese Aufschrift, oft sind Wasserspuren auf dem Schriftgut. Nach der Wiedervereinigung ergab sich die einmalige Gelegenheit der Zusammenführung der Bestände von Dahlem, Merseburg, Potsdam und Berlin, wobei sicher die eine oder andere Akte nicht den neuen Standort fand. Mitunter trifft man in verschiedenen Archiven denselben Vorgang im selben Wortlaut, weil eine Nachricht in Abschriften an mehrere betroffene Behörden geschickt werden musste. Nach ihrer Herkunft und Entstehung, der „Provenienz“, werden die entstandenen Archivalien auf die Archive verteilt. Das heißt, der Forschende muss wissen, welche Behörden sich zu welcher Zeit mit dem Sachverhalt befasst haben können, den es zu erforschen gilt. Das setzt einige Kenntnisse voraus. Wer sich zuvor im Bibliothekswesen nach Themenfeldern orientiert hat, braucht Hilfe. Zu den Besonderheiten der Moabit betreffenden Dokumente gehört, dass sie zunächst auf Französisch verfasst wurden. Hugenotten durften sich in ihrer Muttersprache direkt „au Roy“ wenden. Dessen Räte antworteten auf Französisch, oft gab „Sire“ noch selbst einen Kommentar dazu. Während die Eingaben der Flüchtlinge meist von professionellen Schreibern in Schönschrift verfasst wurden, waren die königlichen Anmerkungen nur von Eingeweihten zu entziffern. Doch auch die Kopien der Behörde wurden mit steigender Stückzahl immer unlesbarer. Ähnlich ergeht es uns heute mit Akten, die zu ihrer Schonung dem Benutzer nur als Mikroverfilmungen vorgelegt werden. Deren Inhalt ist oft durch Fehlbelichtung nicht mehr erkennbar. Aus den Augen, aus dem Sinn geraten immer wieder Bemühungen, die Geschichte seines Ortes zu ergründen. 1955 ließ der Tiergartener Bezirksbürgermeister verstreutes Archivgut sichern, Verwaltungsmitarbeiter gründeten einen Arbeitskreis für die Geschichte Tiergartens (AGT): In einer Schule wurden Objekte gesammelt und ein Modell des Lehrter Bahnhofs angefertigt. Die Ruine des Originals sollte ein künftiges Heimatmuseum aufnehmen. Der Bahnhof wurde 1958 gesprengt, das inzwischen etablierte Heimatmuseum Tiergarten 2006 geschlossen. Dessen Archiv und Sammlung wurden mit denen der bisherigen Heimatmuseen Mitte und Wedding zum neuen Mitte Museum zusammengelegt. Der Heimatverein und Geschichtswerkstatt Tiergarten e.V. bemüht sich, „die Anteilnahme an der geschichtlichen, gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung der Ortsteile Moabit, Hansaviertel und Tiergarten zu wecken und zu fördern.“ Bei den Recherchen für das vorliegende Buch konnte ich einige Hilfe in Anspruch nehmen. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Archiven und Bibliotheken in Berlin-Dahlem und Potsdam für ihre Unterstützung. Dann danke ich einer Reihe von Privatpersonen, die durch Mitarbeit oder wichtige Hinweise zum Arbeitsergebnis beigetragen haben. Hervorzuheben ist weiterhin die Leistung der Spender, die die materielle Buchproduktion ermöglicht haben…………………………….