Das rote Klavier
Wie die Natur Klavier spielt
Willem Schulz
Lange hat niemand mehr auf dem alten Klavier gespielt. In einem Nebenraum abgestellt, konnte es nur noch stumm (traurig?) zuhören, wie der Flügel im Wohnzimmer erklang. Bis irgendwann die Idee aufkam, es rot anzumalen und am Rande des Spazierweges neben dem Haus in den Wald zu stellen. Wie würde die Natur auf dem Klavier spielen?
Dies war im Juni 2015. Seitdem spielten Wind und Wetter, Sonne, Regen und Schnee, Blätter, Brombeeren und Kletten, Ameisen, Schmetterlinge und Vögel – kurz: die freie Natur mit dem Instrument. Allein die Menschen sollten ihre Finger davon lassen: ein kleines Schild deklarierte es zum Kunst- bzw. Naturprojekt, an dem langfristig beobachtet werden konnte, wie sich Flora und Fauna auf ihre Weise mit dem Klavier beschäftigten.
Von Anbeginn habe ich diesen Prozess der Mutation fotografisch dokumentiert. Tausende von Bildern zwischen Totale und kleinsten Details erzählen von einem vitalen Prozess des vergänglichen Wandels. Nach genau 5 Jahren, im Juni 2020 brach das rote Klavier auseinander und verschwand zunehmend in der rankenden, einverleibenden Vegetation. Bis es der Schnee im Februar 2021 unter sich begrub.
Bilder der Vergänglichkeit einer Ikone klassischer westlicher Musik – vielleicht ein ahnendes Sinnbild dafür, wie sich in einem für unsere Wahrnehmung stillen und bewegungslosen Prozess die unweigerliche Kraft, Kreativität und Größe der Natur offenbart, die unsere Kultur und die Menschheit an sich schlucken und unendlich überdauern wird.