Der Paria als Unmensch
Grabbe - Genealoge des Anti-Humanitarismus
Carl Wiemer
Zu Grabbe ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. In fünf Essays geht es Carl Wiemer vor allem um das apokryphe theologische Potential in dessen Werk. Grabbe wird als neuer soziologischer Typus, als reaktionärer Paria, entdeckt und als Urheber der Formeln der inversen Theologie Walter Benjamins: Die ‚Theologie der Hölle‘ und den ‚religiösen Weltzustand der Verzweiflung‘ entnahm Benjamin Grabbes Gothland. Die Moderne hat eine religiöse Dimension nur noch in ihren infernalischen Aspekten. Die von Benjamin skizzierte ‚Theorie des Unmenschen‘ – der Unmensch als ‚Bote eines realeren Humanismus‘ – nahm Grabbe um ein Jahrhundert vorweg: In seiner ‚Fehde allem, was menschlich ist‘ hat der Unmensch das göttliche Mandat im Prozeß gegen den Menschen. Der bestialisierten Welt kann man nicht mehr naiv das Wunschbild des Menschen entgegenhalten, sondern nur noch destruktiv das Zerrbild des Unmenschen. Der Unmensch ist Anwalt einer antihumanitaristischen Humanität, in deren Gewand überweltliche Motive inmitten der Immanenz der bürgerlichen Welt einzig noch auftreten können, ohne sich mit dem Pathos messianischer Parolen zu blamieren.
Die radikale Modernität der Dramen Grabbes (so erschließt die kühne Ästhetik des Napoleon erstmals eine am Stand der Kriegstechnologie und an Clausewitz geschulte Phänomenologie) unterschlägt keineswegs die katastrophischen Züge im Begriff der Moderne – etwa als von der Reformation eingeleitete Entzauberung der Welt, die vor der Frigidisierung der Frau nicht haltmacht (Don Juan und Faust).