Der Surrealismus in Belgien
Eine Anthologie
Heribert Becker
Ende 1926 etablierte sich in Brüssel um den Dichter und Theoretiker Paul Nougé und den Maler René Magritte eine frankophone belgische Surrealistengruppe, die über Jahrzehnte ihren rebellischen Unternehmungen nachging.
Die vorliegende Anthologie bietet — erstmals in deutscher Sprache — eine Auswahl unterschiedlicher Texte (Gedichte, Erzählungen, Aphorismen) der wichtigsten Autoren dieser belgischen Gruppe.
Wenn vom Surrealismus die Rede ist, meint man fast immer die 1924 gegründete Pariser Kerngruppe dieser Bewegung. Vergleichsweise wenig bekannt sind andere dezidiert als surrealistisch sich bezeichnende Dichter- und Künstlerkollektive, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte in vielen Ländern entstanden. Unter diesen gilt die frankophone Brüsseler Surrealistengruppe Experten als die zweitwichtigste; jedenfalls ist sie die erste, die sich nach derjenigen in Paris konstituierte, und zwar bereits Ende 1926, als sich zwei präsurrealistische Gruppierungen zur Groupe surréaliste de Belgique zusammenschlossen.
Die heute international bei Weitem bekannteste Persönlichkeit dieser Gruppe ist der Maler René Magritte, der schon 1925 zu seiner unverwechselbaren poetischen Bildsprache fand. Mit der Zeit schlossen sich weitere Schriftsteller und bildende Künstler dem Kollektiv an, das sich in mancherlei Hinsicht in eine andere Richtung entwickelte als die Pariser Ursprungsgruppe, was immer wieder zu Reibereien mit dieser führte. Insgesamt jedoch überwogen die Gemeinsamkeiten.
Die einen wie die anderen waren sich, weit über den Bereich von Literatur und Kunst hinausgehend, einig in der Überzeugung, dass die bestehende geistige, soziale und politische Realität ihrer Zeit gänzlich unannehmbar sei. Ein fundamentales Gefühl der Revolte beseelte beide Gruppen, die die bürgerlich-kapitalistische und christliche Gesellschaft von Grund revolutionieren wollten.
Ähnlich kämpferische Ansichten vertrat eine zweite belgische Surrealistengruppe, die, unabhängig von derjenigen in Brüssel, aber zuweilen mit ihr kooperierend, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in der südbelgischen Industrieregion Hennegau (franz. Hainaut) aktiv war. Während diese Gruppierung ein eher kurzlebiges Dasein fristete, setzten die Brüsseler Surrealisten nach 1945 ihre vielfältigen Aktivitäten fort, die nach einer Phase des Erlahmens in den 1950er und 1960er Jahren durch das Hervortreten jüngerer Mitstreiter sogar bis an die Schwelle zum 21. Jahrhundert anhielten.