Der Weg der Meeresmuschel
Teegespräche über China
Konrad Herrmann, Song Junling
In einem Beijinger Teehaus treffen sich regelmäßig ältere Damen und Herren, um sich über ihre Erlebnisse in der Mao-Zeit auszutauschen. Als Intellektuelle wurden sie fast zwanzig Jahre lang politisch verfolgt. Sie wurden aufs Land verbannt, mussten schwere körperliche Arbeit verrichten und waren grausamen Kampf-und-Kritik-Versammlungen und einer permanenten Gehirnwäsche ausgesetzt. Die Gespräche über diese Zeit erleichtern ihre schwere seelische Last. Aber zugleich treibt sie ein Gefühl der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, indem sie den Ursachen für diese despotische Herrschaft und insbesondere der Auswüchse in der sog. Kulturrevolution nachgehen. Sie stellen sich die Frage, wie es dahin kommen konnte und wie man verhindern kann, dass sich derartiges wiederholt.
In der Diskussion stellen sie fest, dass beispielsweise die Fehlentwicklung zur sogenannten Kulturrevolution einerseits auf den Personenkult um Mao Zedong, Mao‘s Kampf um die Alleinherrschaft, aber auch auf die durch die Geschichte überkommene Sklavenideologie und bestimmte kulturelle Traditionen aus der Feudalzeit zurückzuführen ist.
Unsere Teehausgäste diskutieren auch über die Klassenkampf-Philosophie im neuen China, die Notwendigkeit der Freiheit für den weiteren Fortschritt der Gesellschaft, die Taiwan-Frage und die Perspektiven der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade für das letzte sehr komplexe Thema ist der Autor besonders prädestiniert, denn er ist ein anerkannter, nun im Ruhestand befindlicher Soziologe, der sich mit der städtischen Entwicklung Chinas beschäftigt hat. Mao’s Kredo des permanenten blutigen Klassenkampfes wird die Erkenntnis entgegengestellt, dass der gesellschaftliche Fortschritt auf Kultur, Wissenschaft, Zivilisation, kurz gesagt, den schöpferischen Kräften der Menschen beruht. Der Autor vergleicht den gegenwärtigen Zustand der chinesischen Gesellschaft mit einer Meeresmuschel. Sie muss sich entscheiden, ob sie sich zurück zu einer pyramidengleichen vertikalen Sozialstruktur oder zu einer horizontalen Sozialstruktur bewegen wird, deren gesellschaftliche Bereiche gleichberechtigt agieren. So diskutieren die Teehausgäste über die Charakteristika der gegenwärtigen Gesellschaft in China. Der Autor hebt hervor, dass die Gesellschaft durch große Vitalität in der Initiative der Menschen und hohe Geschwindigkeit des ökonomischen Wachstums geprägt ist. Dies wird auf der anderen Seite durch ein hohes Risiko und eine große Unbestimmtheit erkauft.