Die Violencia in Kolumbien: Verbotene Erinnerung?
Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1948-2008
Hans J König, Stefan Rinke, Sven Schuster
Für das Fallbeispiel der Violencia habe ich mich entschieden, weil ich mir als europäischer Betrachter einer außereuropäischen Kultur nur schwer erklären konnte, warum ein derart massiver Konflikt kaum Spuren im historischen Ge-dächtnis einer Nation hinterlassen hat. Dabei spielte meine Sozialisation in Deutschland eine erhebliche Rolle. Schließlich ist die in Deutschland nach 1945 implementierte Geschichtspolitik und die daraus hervorgegangene Geschichts-kultur eine Erfahrung, die sich auf sämtliche Bereiche unseres Lebens erstreckt, von der Familie über die Schule bis hin zur Universität. Man könnte sagen, es handelt sich bei dem in Deutschland geführten Geschichtsdiskurs gewisserma-ßen um das Gegenteil der kolumbianischen Variante. Denn während Kolum-biens politische Eliten in ihren Reden vor allem auf die Epoche der Unabhän-gigkeit zurückgreifen, die sie meist zu einer mythisch überhöhten Gründerzeit stilisieren, findet die negativ belegte Episode der Violencia keinen Platz im his-torischen Gedächtnis. Es ist gerade so, als ob der aktuelle Binnenkonflikt, der vornehmlich an den Rändern eines traditionell schwachen Staates tobt, keine geschichtlichen Wurzeln hätte. Somit handelt es sich um eine von der Mehrheit der Bevölkerung als nicht abgeschlossen betrachtete Vergangenheit, deren zeit-liche Einordnung schwer fällt. Bereits die diffuse Bezeichnung des Bürger-kriegs, „La Violencia“, deutet darauf hin, dass es den Eliten an erster Stelle dar-um gegangen ist, eine als „schändlich“ empfundene Epoche in Vergessenheit geraten zu lassen.