Emilia Galotti
Deutsches Theater Berlin / Die Theater Edition
Nina Hoss, Sven Lehmann, Gotthold Ephraim Lessing, Regine Zimmermann
Keine Zeit! Wir ahnen es von Anfang an: DIESER ABEND im Deutschen Theater zu Berlin hat keine Sekunde zu vergeuden. Wenige Stunden nur sind es, die Lessing in seinem Trauerspiel unter die Lupe nimmt. Doch sie reichen aus, um das Leben des grundanständigen Bürgermädchens Emilia Galotti zu vernichten. Auch sie ist ein Opfer ihrer Zeit, ein Opfer aristokratischer Willkür, die sich um Gefühle und Befindlichkeiten des Einzelnen nicht schert, es sei denn, er ist ein Angehöriger des Adels. Der nimmt sich, was er will, ohne Rücksicht auf Verluste. Michael Thalheimer schneidet Lessings wortreicher, höfisch-bürgerlicher Räuberpistole den Klassiker-Bart ab, indem er seinerseits an der Zeitschraube dreht. Dabei greift er jedoch nicht nach platten Methoden der Aktualisierung. Seine Protagonisten sind Graf, Intrigant oder Bürgermädchen im alten Gewand, aber sie sprechen wie auf Koks. Beinah ausdruckslos rattern sie sich ihre Texte um die Ohren und lassen keinen Zweifel daran, dass hier das einzelne Wort selten auf die Goldwaage gelegt wird. Es sind Dialoge, die eher einem Feuergefecht gleichen denn einer rhetorisch-psychologisch ausbalancierten Bühnen-Konversation. Warum macht er das, dieser Regiestar des neuen Jahrhunderts, der zusammen mit seinem Bühnenbildner Olaf Altmann mit dieser Inszenierung den ersten Höhepunkt einer anhaltenden Serie gefeierter Inszenierungen lieferte? Es ist nicht allein die Leichtigkeit, die uns an diesem Theaterabend über die Grenzen einer Stadttheater-üblichen Klassikerdeutung hinaus trägt. Es ist der beinahe choreographisch anmutende Gesamtentwurf des Bühnengeschehens, der den Zuschauer gefangen nimmt. Thalheimer spielt mit seinen Figuren Sekundenschach. Er entwirft eine künstliche Mechanik der Auf- und Abtritte, von Rede und Gegenrede, aus treibender Musik und Stille, die sich zu einem verhängnisvollen System verbinden, in dem der einzelne keine Chance hat. Er nimmt seine Emilia und alle, die um sie herum ihr gutes oder böses Spiel treiben, in den Würgegriff und das Publikum gleich mit dazu. Die Laufsteg-Ästhetik und die Fluchtpunkt-Perspektive des Bühnenbildes tun ein Übriges, diesen Abend künstlich aufzuladen und zuzuspitzen. Eine Inszenierung wie ein Messerstich: schnell, scharf und tödlich. (Bonus: Interviews mit Nina Hoss und Michael Thalheimer)