Figurenstehen
Günter Grass
Als er gefragt wurde, mit welcher Frau in der Geschichte der Kunst er gerne zu Abend essen würde, nannte Umberto Eco Uta von Naumburg. So geht es auch dem Erzähler dieser Geschichte. Ende der 1980er Jahre auf Lesereise in der DDR, findet er sie, die schönste Frau des Mittelalters, mit elf weiteren Stifterfiguren im Naumburger Dom. Und weil auf dem Papier alles möglich ist, bittet er alle, nach deren Abbild der Künstler im 13. Jahrhundert die lebensechten Skulpturen geschaffen hat, in seinem Garten zu Tisch. Die Tochter des Goldschmieds, die für Uta Modell stand, hat es ihm besonders angetan. In einem gewagten Zeitsprung steht sie in der Gegenwart für ihren Lebensunterhalt auf Plätzen in Köln, Mailand oder Frankfurt »Figuren«. So sehr verfällt ihr der Erzähler, dass er überall nach ihr Ausschau hält und sich schließlich sogar für einen verhängnisvollen Botengang einspannen lässt.
Die Erzählung, zunächst als Kapitel für Beim Häuten der Zwiebel konzipiert, wurde erst kürzlich von Grass‘ langjähriger Mitarbeiterin Hilke Ohsoling im Archiv entdeckt – allerdings nicht einfach in einer verstaubten Schublade. Hinweise auf Figurenstehen hatte sie schon vorher gefunden: in einzelnen Manuskriptseiten im Archiv, in Arbeitsplänen, in einer Skulpturengruppe im Atelier, in Lithographien. Eine bislang ungekannte, feinsinnige Erzählung des Literaturnobelpreisträgers, die nicht in der Neuen Göttinger Werkausgabe enthalten ist.