Goethe und Lessing
Eine schwierige Konstellation
Wilfried Barner
Goethe (1749-1832) und Lessing (1729-1781), die beiden herausragenden ‚Nationalklassiker‘ des 18. Jahrhunderts zusammen mit Schiller, haben mehr als ein Jahrzehnt lang gleichzeitig auf der deutschen literarischen Bühne agiert. Obwohl ihre Lebensräume zumeist nicht weit auseinander lagen, sind sich die beiden nie begegnet. Soweit wir wissen, ist nie ein Brief zwischen ihnen gewechselt worden. Der sehr viel Jüngere, an dem es nach dem Comment der Zeit gewesen wäre, den ersten Schritt zu tun (so wie es im Falle Klopstocks und mancher anderer auch geschah), hat sich ferngehalten.
Als der ehrgeizige Frankfurter Patriziersohn in Leipzig ersten Poetenruhm zu erringen sucht, ist Lessing bereits eine Orientierungsgröße des Theaters und eine – auch gefürchtete – kritische Autorität („Laokoon“, „Minna von Barnhelm“, „Hamburgische Dramaturgie“). Als Goethes Stern mit „Götz“ und „Werther“ aufgeht, beobachtet der Wolfenbütteler Bibliothekar den jungen Autor zugleich skeptisch als Repräsentanten der neuen, zügellosen Genie-Generation. Im Jahre 1775 rücken beide mit ihren „Faust“-Projekten in knisternde Nähe zueinander.
Das Ineinander von objektivierbarer historischer Konstellation und psychologischem Aspekt ist aussagekräftig und nicht hinreichend genau untersucht. Goethes Urteil über die Persönlichkeit Lessings und über einzelne seiner Werke in „Dichtung und Wahrheit“ haben kanonische Geltung gewonnen. Spätestens seit Schillers Tod wird auch Lessing für Goethe eine in ‚historische‘ Distanz gerückte Gestalt, die in „erbärmlicher Zeit“ hat leben müssen.
Zur Reihe:Mit den „Kleinen Schriften zur Aufklärung“ legt die Lessing-Akademie im Sinne ihrer Aufgabenstellung einzelne zeitgenössische Texte und kleinere Abhandlungen zur Erforschung von Leben, Werk und Zeit Gotthold Ephraim Lessings und der Aufklärung in allen ihren Erscheinungsformen, ihrer Wirkung und Bedeutung bis in die Gegenwart vor. Die Schriften wenden sich nicht allein an wissenschaftliche Interessenten, sondern auch an einen breiteren Leserkreis und sollen dazu beitragen, die geschichtliche Entwicklung und den normativen Gehalt der Aufklärung als intellektuelle, politisch-moralische, prinzipiell auch soziale Reformbewegung besser zu verstehen und zutreffend zu würdigen. Das erscheint um so notwendiger, als die Aufklärung, die am Anfang der „modernen Welt“ steht, bis heute kritisch auf ihre Legitimität und ihre Auswirkungen befragt wird.
Die Reihe steht für unterschiedliche Themen und Weisen der Darbietung offen und wird in lockerer Folge fortgesetzt.
Der Autor:Wilfried Barner, Professor für Neuere deutsche Literatur, geb. 1937.
Arbeitsschwerpunkte: Literatur vom Humanismus bis zur Goethezeit, besonders Lessing; Literatur nach 1945; Literaturtheorie, Wissenschaftsgeschichte, deutsch-antike Literaturbeziehungen