Licht durchs Gezweig unserer Schatten von Dreher-Richels,  Gisela

Licht durchs Gezweig unserer Schatten

Ein Stundenbuch

Für Gisela Dreher-Richels ist Sprache Form. Form für Gedanken, für Begriffe. Das Gedicht ist die schönste, die reinste Form der Sprache. Formwille ist in jeder Zeile zu spüren, spricht aus der Syntax, teilt sich in der graphischen Gestalt mit.
Wir wollen es nicht als Ursache ansehen, aber eine Bewandtnis hat es schon, daß diese Gedichte eine bildende Künstlerin geschrieben hat. Bevor sie als Lyrikerin hervortrat, hatte sich Gisela Dreher-Richels im Gestalten von Glasfenstern für sakrale und profane Räume einen Namen gemacht. Und es kann nicht verborgen bleiben, daß die Formensprache der Glaskunst wie ein Synonym für die Form der Gedichte wirkt: streng und spröde, transparent und bildhaft, sensibel und symbolträchtig.
Poesie, das erfahren wir in diesem Buch der Meditationen, ist Ordnungsgefüge – notwendige Voraussetzung und Fassung eines Gedankenbildes. So wie die bildende Künstlerin das Glas in Blei faßt, um ihm Struktur zu geben, faßt die Dichterin die Gedanken und Gefühle in eine syntaktische Form ureigenster Prägung. Für ihre Glasfenster entwickelte sie eine eigene Handschrift, für ihre Lyrik ein eigenes Vokabular, das ihren Gedanken Raum und zugleich Begrenzung gibt.
Fülle wird nicht wirksamer, indem sie füllig gemacht, sondern indem sie auf die schlüssigste Form gebracht, indem tiefe Empfindung auf das klarste und knappste ausgedrückt wird. Die Kunst des Weglassens, der Verknappung, der Askese, das ist die Kunstform, die diese Autorin so vollendet beherrscht, daß wir uns kaum Prägnanteres und Substantielleres vorstellen können. Dichtung ist immer Verdichtung. Dichtung ist aber auch das Öffnen neuer Horizonte, das Weisen neuer Wege, das Erkennen neuer Inhalte.
Es gibt in diesen Gedichten keine Verzettelung, keine Verzierung, keine Verallgemeinerung. Gerade weil Gisela Dreher-Richels weiß, daß Form Maß ist, weiß sie die Form an den Dingen zu messen. Weshalb ihre Lyrik auch liturgische Ordnungen zu füllen vermag. Sie wählt den Ablauf von Tag und Nacht, bindet ein in Zeit und das Zeitliche, in den Wechsel der Stunden und Tage, Monate und Jahre.
Aber dieser Wechsel wird nicht als lineares Fortschreiten begriffen, sondern als spiralförmige Entwicklung. Führt sie doch aus linearer Begrenzung und einem nur um sich selbst kreisenden Befangensein.
So stellt sich das Leben als ein windungsreicher Prozeß dar – „Leis / überholt / eine Zeit / eine andre /“, wie es in dem Gedicht „Spirale“ heißt. Der Spirale als Symbol für Befreiung aus Endlichkeit, Gefangensein steht das Wort „und“ zur Seite. Es gibt bei Gisela Dreher-Richels nicht die Alternative Licht oder Dunkel, sondern das integrierende Licht und Dunkel. Das Bindewort ist Losung für die „Lichtwege / durch ein Land / Dunkelheit /…“ Dualität wird aufgehoben, überwunden: „Traum für den Tag / und / Wachsein für Nacht / und / keine Trennung von / Frage und Antwort /…“
Dem Formbewußtsein entspricht das Sprachgefühl, dem Sprachgefühl die Wortschöpfung. Einige der schönsten Wortschöpfungen und Bilder sollen erwähnt sein: Die „Herbstfüße“, die letzte Sonnenwärme suchen; das „Sonnengelächter“, der „Mondkahn“; „Traumfrüchte / reifen / mir zu. / Tagzehr / soviel / ich nur / faß“; „In der Zeit / für / Ohnzeit / gesponnen /…“. Allein diese wenigen Beispiele weisen die Qualität der Dichtung aus. Das „Stundenbuch“ ist ein Solitär unter den zeitgenössischen Lyrikbüchern.

Heinrich Domes, im Mai 1995

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