Nietzsches Kulturkritik
zwischen Philologie und Philosophie
Carlo Gentili
Nietzsches Verhältnis zur Philologie und deren Vertretern, zu denen er als Ordinarius für klassische Philologie an der Universität Basel ja selbst gehörte, war überaus ambivalent: Auf der einen Seite schmähte er – nach der vernichtenden Kritik an der Geburt der Tragödie – seine Kollegen in einer Notiz von 1872/73 als ‚am Conjekturenwebstuhl‘ sitzende ‚Castraten‘, auf der anderen Seite erhoffte er sich gerade von der ‹Unzeitgemäßheit› ‹seiner› Zunft das Potential, ‚gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit‘ zu wirken, und führte sie als ‚Kunst des richtigen Lesens‘ in seiner Kulturkritik immer wieder gerne gegen die unterschiedlichsten Gegner ins Feld. Von einer klaren Trennung zwischen dem Philologen und dem Philosophen oder gar von einer kontinuierlichen ‹Entwicklung› vom Philologen zum Philosophen darf daher also nicht ausgegangen werden, vielmehr scheint sich Nietzsche immer irgendwie ‹zwischen› diesen beiden Disziplinen bewegt zu haben. Carlo Gentili entwickelt ein komplexes Bild dieser Zwischenstellung, indem er den kulturkritischen Denkbewegungen Nietzsches chronologisch von dessen Jugendjahren als Gymnasiast an der Landesschule Pforta, über die Zeit als Professor in Basel bis zum Zusammenbruch im Januar 1889 folgt. Als leitende Themen dienen Gentili vier für Nietzsches Kulturkritik zentrale Motivbereiche: die Auseinandersetzung mit dem Bildungswesen, die Umdeutung der griechischen Antike, die vehemente Aburteilung der christlichen Religion sowie die vielschichtige, oft missverstandene Konzeption eines ‚Willens zur Macht‘.