Schokolade in der Kunst
Eine kunstgeschichtliche Materialprüfung
Constanze Küsel
Das Nahrungsmittel Schokolade erweitert seinen Aktionsradius zunehmend: Von seiner traditionellen Funktion als Genuss- und Lebensmittel dringt es verstärkt in ganz neue Bereiche des alltäglichen Lebens ein. Als sinnliches Gaumenvergnügen findet die Schokolade den Weg aus dem Küchenschrank und der Konfektdose in die Regale der Geschenk- und Gebrauchsartikel, der Wellnessprodukte oder Wohnaccessoires. Selbst die Künste haben das Nahrungsmittel und seine Materialität schon seit längerem für sich entdeckt. Schwimmt die Bildende Kunst auch nicht auf der höchsten Welle des derzeitigen Schokobooms, so setzt sich das Material neben dem Kunsthandwerk auch im Kunstmarkt konstant durch und erobert mehr und mehr den (Kunst)-Genießer für sich. In der Arbeit werden die Entwicklung und der Umgang mit Schokoladeobjekten in der Kunst, die Intentionen der mit Schokolade arbeitenden Künstler sowie Fragestellungen und Probleme, die mit dieser Kunst einhergehen, aufgezeigt. Das Verhältnis zwischen dem gewählten ephemeren Material und der Form, der Idee und der Wirkung einer Kunst, die nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt ist, steht ebenso im Fokus wie das Zustandekommen der Wertigkeit, aber auch der Bedeutung dieser Kunstwerke in rezeptionsästhetischer als auch produktionsästhetischer Hinsicht. Kunst aus Schokolade kokettiert mit der Ambivalenz des Materials. Wie verändert sich der Bezug zu der Materie in einem künstlerischen Kontext im Hinblick auf die konditionierten Materialerfahrungen des Wahrnehmenden? Die Künstler spielen einerseits mit der Doppeldeutigkeit des Materials, andererseits mit der Fragilität und dem Ephemeren von Schokolade. Das Weiterleben des Materials im Zerfall wird zum unmittelbaren Ausdrucksträger eines Kunstwerkes.Künstlerstrategien wie die eines Dieter Roth, der seine Werke den Maden überlässt, einer Janine Antoni, die ihre Werke selber ernagt oder der jungen Künstlerin Sonja Alhäuser, die den Betrachter nagen lässt, veranschaulichen die Vielschichtigkeit des Kunstmaterials und verweisen zugleich auf Konzepte, die nicht nur den Kunstbetrieb vor neue Herausforderungen stellen. Ein kurzer geschichtlicher Überblick über die Darstellung und Verwendung von Lebensmitteln im Laufe der Kunstgeschichte führt zunächst in das Thema ein. Als Grundlage für die Analyse und Konkretisierung der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Materials Schokolade in der Kunst steht zu Beginn eine kurze Definition des Begriffes Eat Art am Beispiel verschiedener künstlerischer Konzepte. Der anschließende geschichtliche Überblick über die künstlerische Auseinandersetzung vergangener Epochen mit dem Produkt Kakao und seinen Erzeugnissen dient der Klärung assoziativer Bezugsebenen und leitet über zu dem Hauptkapitel, das die künstlerischen Strategien und die Auswirkungen dieser Kunst auf den Kunstbetrieb behandelt. Die Funktion der spezifischen Materialität von Schokolade sowie die Bedeutung assoziativer Bezüge innerhalb der künstlerischen Konzepte stehen im Fokus der Untersuchung.Schokoladenarbeiten wie Marcel Duchamps „Schokoladenreibe“, die sich erst in der Auseinandersetzung mit seinem „Großen Glas“ vollständig erklärt, oder Joseph Beuys’ symbolischer Einsatz des Materials als Energiespender und Dieter Roths Schokoladen-melancholie gegen die Erstarrung im Ewigen, finden in den nachfolgenden Künstler-generationen gleichberechtigte Materialexperten. Die progressiven Materialschlachten von Thomas Rentmeister, dessen Nutellahaufen an Fäkalien erinnern, oder die selbst genagten Kuben von Janine Antoni, beschreiten neue Wege der interaktiven Beziehung zwischen Künstler, Kunstwerk und Rezipient. Die gefährlichen Materialkonglomerate aus Schokolade, Draht und Glas von Warren Laine, die sich widerspenstig dem Betrachter entgegenstellen und sich jeder sinnlich oralen Wahrnehmung verwehren, zeigen die andere Seite der süßen Schokolade. Gesellschaftspolitische und religiöse Kontexte finden ebenso Erwähnung wie die sexuelle Konnotation und die Bedeutung der Wahrnehmung dieser Kunst mit allen Sinnen – auch der Täuschung und Illusion – bis hin zur körpereigenen Erfahrung durch den Verzehr dieser Kunst. Die Arbeit behandelt aber auch die Frage nach dem Stellenwert des Originals in der Kunstwelt. Wie ändert sich die Authentizität mit dem Altern eines Kunstwerkes? Wie weit sollen oder dürfen diese Werke verfallen? Der Auflösung von Kunstwerken stehen die technische Anfertigung von Kunstwerken in Serie oder das Konzept der Reproduzierbarkeit gegenüber. Durch die zusätzliche Option des Verzehrs der Schokoladenwerke bewegen sie sich auf dem schmalen Grat zwischen exklusiver, einzigartiger Kunst und populärem Kunstkonsum. Das ,Konsumieren’ von Kunst kann bei Kunstwerken aus Schokolade neben der Wahrnehmung auch bis zur oralen Einverleibung und der diskursiven Rezeption über den preiswerten Kauf von Massenprodukten gehen.