Unsichtbares Christentum?
Studien zu religionssoziologischen und theologischen Bewältigungsstrategien der Entkirchlichungserfahrung im 19. und 20. Jahrhundert
Jürgen Eikenbusch
Die drei Studien dieser Arbeit kreisen um die Frage nach der Legitimität der Rede von einem „unsichtbaren Christentum“ oder einem „Christentum ausserhalb der Kirche“ im Zusammenhang mit dem Entkirchlichungsprozess. In der ersten Studie geht es um die soziologische Interpretation der Veränderung der religiösen Landschaft seit 1960. Lässt sich vom dramatischen Bedeutungsverlust der Kirchen darauf schliessen, dass die Bevölkerung Westeuropas auch weniger christlich, weniger religiös geworden ist? Der Autor stellt eine Bandbreite von Theorien vor, die von Luckmanns Entkoppelung von Religiosität, Christlichkeit und Kirchlichkeit bis zur Identifikation dieser Wirklichkeiten durch die (katholische) Kirchensoziologie reichen. Die zweite Studie widmet sich zwei theologischen Bewältigungsstrategien der Entkirchlichungserfahrung. Schon im frühen 19. Jahrhundert wird in den Kirchen wahrgenommen, dass die Aufklärung und die Modernisierung des Lebens zu gravierenden Umwälzungen auch im religiösen Bereich geführt haben und ihr eigener Einfluss im Rückgang begriffen ist. Innerhalb der Konfessionen und auch zwischen ihnen wird man sich nicht darüber einig, wie mit dieser Erfahrung umzugehen sei. Es werden zwei gegensätzliche theologische Ansätze vorgestellt und untersucht: das Plädoyer des katholischen Neuscholastikers Joseph Kleutgen (1811-1883) für eine Rückkehr zur Philosophie und Theologie der Vorzeit und die Theorie des liberalen evangelischen Theologen Richard Rothe (1799-1867) vom Aufgehen der Kirche im Staat. In der dritten Studie wirft der Autor einen systematischen Blick auf die katholische Ekklesiologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Hatte die Öffnung zur Welt, die die Kirche mit dem Konzil vollzogen hat, auch die Anerkennung christlichen Lebens ausserhalb der Kirche zur Folge? Besonderes Augenmerk wird dabei auf solche Ekklesiologien geworfen, die den Dienst der Kirche für die Welt in einen Zusammenhang mit der Kenosis des Logos stellen. Ihre gemeinsame Perspektive finden die drei Studien in der Suche nach der Bedeutung des christlichen Glaubens in einer Zeit, in der die Kirchen ins Hintertreffen geraten sind. Kommt durch den Entkirchlichungsprozess nicht die Bedeutung der „ausserkirchlichen Wirklichkeit“ für die Entfaltung des Christentums und für die Gewinnung theologischer Erkenntnisse stärker in den Blick als früher? Bietet die dramatische Entwicklung der Kirchen, die wir zurzeit beobachten, von daher nicht auch vielfältige Chancen für die Zukunft des Christentums in unserer Welt?