Wachsender Mond
1985-1988
Luise Rinser
Luise Rinser legt einer breiten Leserschaft den sechsten Band ihrer vielerlei Er-Fahrungen bezeugenden und reflektierenden Aufzeichnungen vor: Der erste, Baustelle, 1970 erschienen, trug den Untertitel ›Eine Art Tagebuch‹. Er gilt auch für diesen Band. Die gewohnte Übung ist frei von Routine, Erlebnis und Darstellung erneuern sich. Anschaulich schildert, spontan bewertet die Autorin das Erlebte in frischer, knapper, einfacher Prosa.Menschen, Erscheinungen, Weltgeschehen und inneres Geschehen, aufgenommen von einem leidenschaftlichen Temperament, das Kampf nicht scheut und Frieden ersehnt – Frieden auf Erden und im Glauben, im Herzen. »Unpolitisch reden« kann man nicht mehr. Sogleich zu Anfang, fragt Luise Rinser nach dem Lebenssinn; sie fragt unermüdlich. Alles ist bewegt. Reisen führen sie ins Weite, Ferne, Fremde, das ihr nah wird und fast schon vertraut und wundersam wie der Morgengang durch den eigenen Garten. Der Eintritt zumal in vielfältige Gebiete des sie stets stärker fesselnden Ostens lockert nicht die Bindung an die Heimat, die erste, bayrisch-katholische Heimat in Pitzling und Wessobrunn, und die zweite in den Bergen bei Rom. Kontemplation wechselt mit unverblümter Äußerung zu aktuellem, mystisches Empfinden verträgt sich mit festem Ichbewußtsein, wie der Mond wächst die Bedeutung des Religiösen, in dem buddhistische Elemente und sozialistische Impulse wirksam sind.Luise Rinser ist unterwegs: in Finnland, Dänemark, Norwegen und Island, in der DDR und zweimal in Albanien, China und Nordkorea. Ihr Rocca die Papa wird der Ehrenbürgerin doppelt heimisch, als sie den Spuren bayrischer Einwohner aus dem 14. Jahrhundert nachgeht. Sie spricht in Westberlin über Musik als Vorklang der harmonia mundi, die Rede über Haydns ›Schöpfung‹ darf sie in Regensburg nicht halten. Sie greift an, sie erklärt und bekennt sich, sinnt nach über die Jungfrauengeburt und feministische Theologie, den Schluß von ›Faust II‹ oder Kleists Tod. Im Kleinen sieht sie das Große und Göttliche. Ihre Sorge umfängt die Bedrohten: Natur und Kreatur und Mensch.