Welteln /Mundar von Burghardt,  Juana, Burghardt,  Tobias, Gelman,  Juan

Welteln /Mundar

Gedichte /Poemas 2004-2007

Als JUAN GELMAN 2007 mit dem renommierten Cervantes-Preis, dem wichtigsten Literaturpreis in der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet wurde, hatte er ein unveröffentlichtes Buch in der Schublade, in dem er seine Gedichte aus den jüngsten vier Jahren versammelte und indem er ein Wort als Titel erfand: MUNDAR. Einerseits handelt es sich um eine erstmalige Verbalisierung des Substantivs ‚mundo‘ (Welt), das neue Verb ‚mundar‘ (welteln), ein noch nie dagewesenes Wort, andererseits um eine Komposition aus den beiden Wörtern ‚mundo‘ (Welt) und ‚dar‘ (geben), das sich beim ‚d‘ verwandelt, also ineinander verschmilzt, dann ‚Welt geben‘ bedeuten könnte. Dem Dichter reicht diese Welt nicht, wie sie ist, obwohl ihm die Welt längst reicht, wie sie eben doch nicht ist, und seine weite Welterfahrung gibt er in den Gedichten weiter, überschreitet gewöhnlich bekannte grammatische Grenzen, substantiviert auch umgekehrt Verben oder tastet sich spielerisch im Sprachfluß voran. In seiner poetischen Welt bedarf der Dichter selbst keiner klaren Ideen seines Handeln, denn er glaubt, daß dies schlicht unmöglich ist. Er gehört zu jenen, die ihr schöpferisches Tun nicht erklären können. Für ihn ist die Poesie ein Instrument der Erkenntnis, um die Gründe und Abgründe des Lebens und der Geschichte allgemein und persönlich zu erfahren und zu erkunden. Demnach weiß selbst der Autor nicht mit Gewißheit, was die Poesie eigentlich ist. Vielleicht kann sie der Schatten des Schattens der Erinnerung sein oder aber der Schatten eines blattlosen Baumes.
Einige Beispiele daraus oder lieber alle 121 Gedichte auch hier frei und aus sich selbst atmen lassen? Man darf bei diesen Gedichten aufpassen und über Merkwürdigkeiten stolpern und ins Stocken geraten, um diese Poetik zu genießen, in der etwas benannt werden möchte, was noch keinen Namen hat, in der etwas neu gesagt wird und ein Schweigen mitschwingt, in der das Schweigen benannt wird und ein Nichtsein zur Sprache kommt, wiewohl nichts und niemand spricht, um ein Miteinander von Tragödie und Trost zu ermöglichen. Für Juan Gelman gilt die Poesie bisweilen natürlich als der große Trost und auch Zuversicht auf eine Zukunft. Ja, er bezeichnet sich selbst als ‚hoffnungslos Hoffenden‘.

Juan Gelman wurde 1930 in Villa Crespo, Buenos Aires, geboren, wo er aufwuchs, das Colegio Nacional besuchte und zu jener Zeit bereits erste Gedichte schrieb, bevor er in den fünfziger Jahren erstmals seine Verse veröffentlichte und schließlich der Debütband erschien. Nach seinem abgebrochenen Chemiestudium war er als Lastwagenfahrer tätig und transportierte Möbel, bevor das Interesse vor allem journalistischen Tätigkeiten galt und er Korrespondent der chinesischen Presseagentur Xinhua wurde. Sein Herz schlägt seit der jüngsten Jugend weit links, er gehörte bei den argentinischen Jungkommunisten zum ‚demokratischen‘ Block, stritt mit dem ‚peronistischen‘ Block über die Revolution und versöhnte sich wieder beim gemeinsamen Billardabend in der Bar, beim Fußballspielen oder bei Milonga und Tango. Das politische Engagement intensivierte sich in den 60er und 70er Jahren, er wurde Revolutionär und gehörte zu den Montoneros. Als er aus jener Organisation austrat, stand er auf einmal sowohl auf der Todesliste der Triple A als auch der Montoneros selbst. Juan Gelman befand sich im Untergrund, wie etliche argentinische Intellektuelle, Dichter und Künstler. Im Rahmen der Operation Cóndor verschleppten die Schergen der Militärdiktatur in Buenos Aires seinen Sohn Marcelo Ariel Gelman, dessen Leichnam 1989 auf dem Flußgrund des Río Luján in einem Betontank aufgefunden und exhumiert wurde, und seine bis heute in Uruguay verschollene Schwiegertochter María Claudia Irureta Goyena de Gelman, die noch im Militärgefängnis von Montevideo eine Tochter zur Welt brachte: Macarena wurde erst im Frühjahr 2000 bei einer fremden Familie in Montevideo aufgespürt, die das Baby kurz nach ihrer Geburt an sich genommen hatte. Das verschwundene Enkelkind war nach mehr als zwanzig Jahren endlich aufgetaucht und hat inzwischen den Namen ihrer leiblichen Eltern angenommen.

Der verfolgte Dichter war Mitte der siebziger Jahren ins Exil nach Europa geflohen, kämpfte aus der Entfernung in Rom, Paris oder Barcelona weiter gegen die Diktaturen Lateinamerikas, suchte jahrzehntelange verzweifelt nach den Verschwundenen und lebt seit den neunziger Jahren in Mexiko-Stadt. Juan Gelman bleibt ein poetischer Avantgardist, ein Mahner in Menschenrechtsfragen und sowohl ethisch als auch ästhetisch ein Vorbild für mehrere lateinamerikanische Dichtergenerationen, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen aller Kontinente übersetzt, die spanischsprachige Literaturszene hat erneut einen wahrlichen Nobelpreiskandidaten, der mit Borges zumindest Kleinigkeiten gemeinsam haben wird, wie er selbst einmal bemerkte. Und dem nie der ureigene Humor fehlt, um Welt zu geben und zu welteln. Das erfundene Wort gefällt ihm sehr.

Tobias Burghardt (Splitter)

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