Einführung
Schon als Kind faszinierte und irritierte mich die Geschichte zugleich, noch hatte ich keine Worte dafür, aber ein konkretes
Gefühl. Denn auf der einen Seite belustigte mich die Unbeschwertheit, die Leichtigkeit, mit der Kostbares gegen Minderes eingetauscht wurde. Auf der anderen Seite verstörte mich, dass der Protagonist zuletzt mit leeren Händen dastand,
ganz allein auf sich zurückgeworfen. Und ganz contre Coeur lautete obendrein der Titel des Märchens: „Hans im Glück“. Das
sollte das Glück des Menschen sein, im Tausch sich (selbst) täuschen zu lassen? Als junger Theologiestudent begegnete mir die Geschichte wieder. Aber nun wurde sie als Parabel des modernen Menschen gelesen, wurde sie aufgeschlüsselt in diesem Ringen um Freiheit, die in vielen Plausibilitäten eins ums andere hergibt, das Wichtigste und Kostbarste wegschenkt, um dann allerdings mit leeren Händen dazustehen. Der moderne Mensch, wir, in unserer Freiheit, zurückgeworfen auf uns selbst, einsam und allein gelassen und nicht mehr wissend, wohin der Weg führt. Es war die „Einführung in das Christentum“ von Joseph Ratzinger, die mir die Augen dafür öffnete, und so wurde die Lektüre zu einem Schlüsselerlebnis für mich. Jeder Satz war unendlich spannend, weil er mir neue, überraschende Erkenntnisse
schenkte. Nahezu jedes Wort war gewichtig, weil es in die Tiefen des Menschseins und damit in die Höhen der
Theologie führte. So begriff ich mehr und mehr, dass dieses Ringen der menschlichen Freiheit und das gleichzeitige
Rückgebundensein an das Bild des Menschen, wie Gott ihn gedacht hat, die eigentliche Grundspannung jeglichen angemessenen Denkens und Redens von Gott und den Menschen ist. Noch etwas anderes erkennen wir an unserem „Hans im Glück“.
Er ist unterwegs und strebt seiner Heimat zu. Letztendlich ist diese Bewegung das Charakteristikum menschlichen Lebens
überhaupt. „Wir sind im Leben alle unterwegs und gehen auf die Zukunft zu“, dieses Wort von Papst Benedikt XVI. fasst es zusammen, denn solange ein Mensch Zukunft hat, geht er in diese Zukunft hinein. Und unser Glaube sagt uns, dass diese Dynamik eine ganze Ewigkeit währt. Diese urmenschliche Erfahrung hat den Menschen von der Frühzeit an zu einem Pilger werden lassen. Denn im Wallfahrtsweg spiegelt sich in komprimierter Weise letztlich das Leben selbst. Auf einer Pilgerreise verdichten sich die urmenschlichen Erfahrungen, das Leben ist ein Weg-Abenteuer mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Enttäuschungen und Hoffnungen, mit seinen Beschwernissen und Erleichterungen, mit seinen Ängsten und Freuden.
So lag es nahe, einmal einige große Wallfahrtsorte der Christenheit, Rom, Jerusalem, Santiago de Compostela und Kevelaer, wie sie im Wort des Gedichtes oder Liedes uns vorgestellt werden, näher zu betrachten. Rom und Jerusalem hatten bereits in antiker Zeit ihren klangvollen Namen. Das „Ewige Rom“, diese kleine Siedlung am Tiber, die bereits vor Christus ihren rasanten Aufstieg zur Weltmetropole nahm, zu der dann „alle Wege“ führten. Mit Petrus als ihrem ersten Bischof entwickelte sie sich durch die Verfolgungszeit hindurch auch zur besonderen Mitte der Christenheit, und der Nachfolger Petri nahm immer einen herausragenden Platz im Bischofskollegium ein. Jerusalem war der erste Ort, zu dem Christen pilgerten. Keine Geringere als die Kaisermutter Helena wollte die Stätten sehen, an denen sich das Drama der Erlösung des Menschen vollzogen hat. Und so wurde Jerusalem zu dem, was es bis heute ist: Die Stadt der großen Weltreligionen, zu der Juden, Muslime und Christen pilgern. Und obwohl Jerusalem das Wort „Frieden“ in seinem Namen trägt, ist es bis in unsere Zeit eine offene Wunde Gottes und der Menschheit, weil es immer wieder und viel zu oft
Anlass und Ort kriegerischer Auseinandersetzungen war und ist. Der Sternenweg führt zum „Sternenfeld“, eben zu Santiago de Compostela, wo der „wahre Jakob“ zu finden ist. Ein (wohl fingierter) Pilgerbericht des Papstes Calixtus war Anstoß, dass im Mittelalter gleichsam die Christenheit dorthin wallfahrte. Dabei weiß man heute, dass schon in keltischer Zeit die Menschen diese Wege zum „Ende der Welt“ zogen. Es sind also wirklich uralte Pilgerpfade, die gerade in unserer Zeit neu entdeckt werden. Der Gnadenort Kevelaer ist die jüngste Pilgerstätte in unserem Vierklang, der in diesem Buch aufklingen soll. Immerhin seit 1642, als auf Initiative des schlichten Handlungsreisenden Hendrik Busmann und seiner Frau dort ein Bildstock mit dem papierenen Abbild der Luxemburger Madonna aufgestellt wurde, ziehen die Menschen aus dem weiten Umfeld des Niederrheins dorthin und erfahren bei der „Consolatrix Afflictorum“, der Trösterin der Betrübten, Stärkung, Heilung und Trost. Diese alten und uralten Pilgerwege sind immer „durchbetete Wege“, auf denen der Mensch seine kreatürlichen Erfahrungen ins Gespräch mit Gott bringen kann. Das sind immer ganz persönliche, ja intime Lebensäußerungen, aber gerade deswegen auch Glaubenszeugnisse, die für andere gewichtig werden können. Denn wie ein Weg leichter zu bewältigen ist, wenn man an den Erlebnissen und Erfahrungen anderer partizipiert, so ist das auch mit unserem Glauben. Glaube ist ja zunächst nichts anderes, als die Teilhabe an den Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen durften, Teilhabe an der Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Glaube lebt vom Zeugnis und damit vom Zeugen, heute mehr denn je. Nicht umsonst formulierte bereits Papst Paul VI. das markante Wort: „Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Lehrer, und wenn er auf Lehrer hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.“ Und letztendlich ist jeder Lebensweg ein Glaubensweg, denn es gilt, dass es so viele Wege zu Gott gibt, wie Menschen auf der Erde sind. Hierhinein gehört dann auch das Paulus-Wort (2 Kor 3,5), das uns daran erinnert, dass wir uns das nicht selbst zuschreiben können, sondern „unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott“. „Wir sind im Leben alle unterwegs“, damit ist auch ausgesagt,
dass zu diesem Wir natürlich auch ein Papst gehört. Schaut man in das Leben von Papst Benedikt XVI., so stellt man fest, dass er zu allererst und grundlegend Lehrer ist, aber in seinen vielfältigen Ämtern und Funktionen, in seinen Vorlesungen, Predigten, Publikationen war und ist er immer auch Zeuge für den Glauben. Dies mag mitunter nicht für jeden in der selben Deutlichkeit erkennbar gewesen sein, so dass manche ihn gerne auf seine einzelnen Wegetappen festlegen wollen, doch spätestens seit seiner Wahl zum Papst der katholischen Christenheit erkennen die Menschen, dass er nicht nur ein bedeutender Lehrer, sondern auch ein begnadeter Glaubenszeuge ist. Denn nur wo dieser Doppelklang zum Tragen kommt, das heißt, mit dem eigenenLeben gefüllt wird, ist man ein „Mitarbeiter der Wahrheit“ (3 Joh 8). Papst Benedikt XVI. soll dieses Buch gewidmet sein als bescheidenes Zeichen des Dankes für seinen Weg, an dem er uns auf so vielfältige und beeindruckende Weise teilhaben lässt. Unser „Hans im Glück“ bekam als Dank für seine Arbeit von seinem Meister einen Goldklumpen; an einen solchen materiellen Dank ist nicht gedacht. Immerhin mag in den Gedichten und Liedern, in den Notaten und Bildern manches Goldkorn blitzen, das allerdings nicht in der Gefahr steht, nachlässig eingetauscht zu werden. Denn womit man Hände füllt, kann verloren gehen, doch nie, womit man Herzen füllt. Das gefüllte Herz eines erfüllten
Lebens, das will Gott uns schenken, weil Gott die Liebe ist (1 Joh 4,16). Dies ist die vornehmste, ja eigentliche Aufgabe
unseres Glaubens und damit aller Glaubenden, in Liebe mit Liebe die Herzen der Menschen zu füllen. Dass wir hierfür in
Papst Benedikt XVI. ein solch ermutigendes Vorbild haben, dafür können wir nur danken.„Wir sind im Leben alle unterwegs und gehen auf die Zukunft zu.“ Dies beinhaltet zuletzt, dass uns in dieser Zukunft kein Ende erwartet, sondern eine Person, Jesus Christus selbst. Und wenn ein Sterbender das Zeitliche segnet, wandelt er sich vom Segnenden zum Gesegneten, weil Christus es ist, der uns empfängt, um uns eine ganze Ewigkeit zu eröffnen. „Und das ist alles unseres Wanderns Sinn.“
Klaus Hurtz