ITALIEN – Valcamonica, heiliges Tal der Camunen, Bibliothek der Vorzeit, Teil 2

ITALIEN – Valcamonica, heiliges Tal der Camunen, Bibliothek der Vorzeit, Teil 2 von Wimmer,  Peter
Im Windschatten hoher Alpengipfel lässt es sich gut leben. Das werden wohl auch die vom reichen Wildbestand angezogenen ersten Siedler des 10. Jahrtausends empfunden haben. Das berichten sie uns durch die Felsbilder die sie hinterließen. Mehr als 300.000 Gravuren von hohem Wert für die Entschlüsselung der Menschheitsgeschichte wurden bis heute freigelegt. Ebenso viele schlummern wahrscheinlich noch unter dem grünen Pflanzenkleid. Über einen Zeitraum von 10.000 Jahren haben die Bewohner des Valcamonica die von Eiszeitströmen glatt geschliffenen Felsen als spirituellen Ort empfunden, als eine Art Nahtstelle zwischen der irdischen Existenz und dem Göttlichen. Die UNESCO hat die umfangreichste Datenbank der europäischen Frühzeit schon 1979 als erstes Weltkulturerbe Italiens unter ihren Schutz gestellt. In den Dörfern entlang des Lago Iseo und des Flusses Oglio erblühte das Christentum schon im 4. Jh. Die Ausschmückung der alten Kirchen ist hochwertig und gut erhalten. Dafür haben sie viele Opfer gebracht, die gottesfürchtigen Bewohner des Tals, in der langen Tradition ihrer Vorfahren, trotz entbehrungsreicher Epochen. Im Gegensatz zu anderen Völkern ihrer Zeit blieben die Camunen immer Jäger, Fallensteller und Fischer. Ihre Hinterlassenschaft reflektiert Überzeugungen, Erfahrungen, Bräuche und Riten, die unsere Daseinsform über Jahrtausende zu dem werden ließ, was sie ist. Für die Wildbeuter war der Hirsch wegen seiner Kraft und wegen seines den Sonnenstrahlen ähnlichen Geweihs das vergöttlichte Tier. Das Gefühl, ihm gleichwertig oder sogar überlegen zu sein, machte die Männer stolz und siegessicher. Kampf- und Jagdpraktiken wurden schon früh vermittelt und trainiert. Davon sprechen die Bildfelsen eindeutig, von der Männerwelt, vom Erfolgsstreben einer Kämpferkultur, aber auch von ihren Ängsten und Sorgen. Ich glaube, dass die Bilder nicht für die Augen der Menschen geschaffen wurden, so wie ein Maler ein Bild malt, sondern für die Welt der Götter. Hinter jedem Motiv steht ein Ausrufezeichen, einem Glaubensbekenntnis gleich. Im Archeopark bei Boario Terme kann ich studieren, wie die frühen Siedler im Valcamonica lebten. Recht komfortabel, zumindest ab dem zweiten Jahrtausend vor der Zeitrechnung. Das empfinde ich beim Anblick dieser Pfahlbauten. Archäologische Funde bestätigen Cividate Camuno, am Ufer des Oglio, als einen der ältesten saisonalen Siedlungsplätze im gesamten Alpenraum. Funde reichen bis in das 13. Jahrtausend zurück. Das Convento della SS. Annunciata bei Piancogno wurde im 15. Jh. als Franziskanerkloster der Heiligen Verkündung gegründet. Im einschiffigen Inneren hat sich Pietro da Cemmo, der hier im Tal aufgewachsene Maler, verewigt. Auf der Klosterterrasse stehend finde ich das, was ich mir heute gewünscht habe, einen weiten Blick über das heilige Tal der Camunen. Die von Spiritualität durchdrungene Felsbildkunst im Nationalpark Foppe di Nadro grenzt im Norden an den Naquane-Nationalpark. Ich empfinde die Herbststimmung und die geringe Besucherzahl an den Kulturstätten besonders angenehm und erholsam. Sehr schön und lebendig ausgearbeitete Szenen der Gottesverehrung breiten sich vor mir aus. Wie ein Fingerabdruck, als Zeugnis der erstaunlichen Kreativität, sprechen die Symbole zu mir, von der Zeit der Jägerkultur, als der Hirsch als göttliches Wesen galt, vom Übergang zu neuen Götterbildern im Wandel der Lebensumstände, von der Sonnenverehrung und schließlich von der Existenz einer Priesterkaste, die sich als Mittler zwischen Mensch und Gott empfand. Im feuchten Glanz des frühen Tages breitet sich Bienno vor mir aus, malerisch eingebettet im Tal, flankiert von Hügeln, die dem Eiszeitstrom widerstanden haben. Die Pfarrkirche Santa Maria Annunciata gilt als eine der bedeutendsten Kulturstätten der Lombardei. Pietro da Cemmo hat den Knochenmann als unversöhnlichen Bogenschützen dargestellt. Ganz gleich, was die auf ihn Zuschreitenden ihm anbieten wollen, ihre Lebensuhr läuft ab. Die Pfeile fliegen und sie treffen. Im Jahr 1532 erhielt der berühmte lombardische Maler Romanino den Auftrag zur Ausschmückung des großen einschiffigen Innenraums von Santa Maria della Neve in Pisogne. Romanino nutzte die charaktervollen Gesichtszüge der Ortsansässigen und die große Frömmigkeit, die von ihnen ausgeht. Er machte sie zu Mitstreitern seines Ringens um die volksnahe Vermittlung der christlichen Botschaft. Sein Werk in Pisogne entwickelte sich sehr rasch, als „Sixtinische Kapelle der Armen“ bezeichnet, zu einer der beliebtesten Wallfahrtsstätten der Lombardei.
Aktualisiert: 2020-01-09
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ITALIEN – Valcamonica, heiliges Tal der Camunen, Bibliothek der Vorzeit, Teil 1

ITALIEN – Valcamonica, heiliges Tal der Camunen, Bibliothek der Vorzeit, Teil 1 von Wimmer,  Peter
Eine filmische Reisedokumentation im Breitbildformat, aus der Reihe „Kulturreisen individuell". Abseits vom Massentourismus, kaum publiziert, schlummert eine Perle des kulturellen Geschehens zwischen grüner Wald- und Buschlandschaft, die vorzeitliche Felsbildkunst im heiligen Tal der Camunen. Die bis heute entdeckten und wieder freigelegten Bildfelsen im Valcamonica in Oberitalien wirken wie eine Enzyklopädie der Vorzeit. Es handelt sich um die größte Ansammlung prähistorischer Bildzeichen in Europa. Wie ein Zeitenspiegel berichten sie vom Aufbruch einer archaischen Jägerkultur in neue Dimensionen des Geistes und von sich wandelnden Lebensformen. Aber nicht nur die Geschichte der alten Camunen, ein Volk voller Energie und Lebensfreude, ist entlang gut ausgeschilderter Bergpfade zu erkunden. Es sind auch die alten Ortschaften, meist in wehrhafter Höhenlage, die mehr und mehr kulturinteressierte Reisende anziehen. Über Jahrhunderte hinweg wurden sie als Schutzraum empfunden und liebevoll erhalten. Bedeutende lombardische Maler des 15. und 16. Jh. haben für die Dorfkirchen ihrer Heimat wahre Meisterwerke geschaffen. Natur, Kultur, Geschichte und uraltes Brauchtum, so könnte ich mit wenigen Worten beschreiben, was ich antraf, abseits viel befahrener Straßen. Das Tal ist eine Naturbühne für 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte. Ich wurde hineingezogen in die Magie der heiligen Stätten, authentisch und flüchtig zugleich, da sie nur dort ihre Wirkung ausbreitet, wo sie entfacht wurde. Der kleine Ort Capo di Ponte ist das Zentrum für die Erforschung der prähistorischen Hinterlassenschaft im Valcamonica. Professor Emmanuel Anati hat sich das Studium der Wissenschaft von der Wiege der Kunst und des Geistes zur Lebensaufgabe gemacht. Ihm und anderen namhaften Spezialisten ist es zu verdanken, dass es heute um die Bildfelsen herum sieben archäologische Schutzgebiete gibt, drei habe ich bei dieser Reise besucht. Die Hinterlassenschaft der Camunen erschließt sich auf mehreren tausend Felsen. 300.000 Felszeichnungen wurden bis heute freigelegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 99 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte hat der Mensch als Wildbeuter und Sammler zugebracht. Somit ist es nicht verwunderlich, dass das Beutegut am Anfang aller Symbolik steht. Der Jäger verehrte die Kraft der Tiere, so wie man eine Gottheit verehrt. Gleichzeitig versuchte er sie zu schwächen, indem er sie in Fels gemeißelt erstarren ließ. Erst in der mittleren Steinzeit wagte es der Mensch sich selbst darzustellen, zuerst gleichwertig mit den Wildtieren, dann herausgelöst und dominierend, gleichsam vor der unterworfenen Natur stehend. Das erzählen die Bilder im Naquane-Nationalpark. Auf dem Felssporn hoch über dem Fluss Oglio thront die wunderschöne dreischiffige Basilika Pieve di San Siro. Pescarzo, das nur noch wenige Einwohner zählende Dorf gehört zu den Alpenorten, in denen die mittelalterliche Architektur zu einem großen Teil erhalten geblieben ist. Dort, wo sich große Fernstraßen verzweigen, im nördlichen Talkessel des Valcamonica, hat sich der alte Handelsplatz Edolo für die Touristen fein herausgeputzt. Andrista, ein winziges, nur noch 150 Einwohner zählendes Dorf, besitzt eine für das Valcamonica einzigartige, mit schönen Fresken ausgestattete Kirche aus dem 15. Jh. Die ehemals zu einem Cluniazenser-Kloster gehörende Kirche San Salvatore gilt als Juwel der Romanik in Italien. Im alten Ortskern von Paspardo ist das Mittelalter präsent, das, was Kriege und Brandkatastrophen überstanden hat. Wie eine Wehrburg wirken die dicht aneinander gepressten Häuser. Nahe beim Friedhof des kleinen Ortes Cemmo beginnt der Fußweg durch den Nationalpark von Seradina und Bedolina. Die Bildfelsen, die ich hier antreffe, zählen zu den Schönsten und Wertvollsten im heiligen Tal der Camunen. Cerveno, ein Ort mit etwa 700 Einwohnern am Westhang des Valcamonica, beherbergt eine Rarität von herausragendem kulturhistorischen Wert. Es war der Pfarrer der kleinen Gemeinde, der sich im 18. Jh. etwas Ungewöhnliches einfallen ließ, um den Ablassverkauf zu fördern. Unter mir, am Ostufer des Oglio, liegt der schon früh erblühte kulturträchtige alte Ort Esine. Die um 1480 errichtete Kirche Santa Maria Assunta gehört zu den besterhaltenen Kulturstätten des Tals. Was der im Valcamonica geborene Pietro da Cemmo hier geschaffen hat, ist venezianische Gotik in lombardischem Gewand. Der Freskenzyklus ist fast vollständisch erhalten. Über dem Altarraum thront Gottvater, umgeben von Engeln und Heiligen. Es ist möglich, das sich der Augustinermönch Pietro da Cemmo selbst in dieser Gestalt verewigt hat.
Aktualisiert: 2020-01-09
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