Zum Anfang eine provokante Aussage: Jede Lehre oder Lehrmeinung, die versucht, den Einsatz der Gaben der Prophetie und der Zungenrede zu be- oder verhindern, sei es auf persönlicher Ebene oder im Rahmen der christlichen Gemeinschaft, agiert nicht im Geist Gottes, der uns in der Schrift über diese Gaben unterweist: „Bemüht euch um die Gabe des prophetischen Redens, und hindert keinen daran, in Sprachen zu reden, ‘die von Gott eingegebenen sind’“ (1. Korinther 14,39 (ngü)). Es ist bemerkenswert und sollte uns nachdenklich machen, dass der Heilige Geist diesen beiden Gaben ein ganzes Kapital im Neuen Testament widmet. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die doch sehr konkreten Unterweisungen in Bezug auf den individuellen und kollektiven Einsatz von Prophetie und Glossolalie (Zungenrede) nur dazu dienen sollen, den Christen zu erklären, dass sie nicht mehr relevant sind.
Paulus schreibt einer chaotischen Gemeinde in einer ziemlich chaotischen Stadt. Der Lebenswandel war von eingefleischtem Egoismus geprägt, und diese Grundhaltung war auch in der Gemeinde zu spüren. Streitereien untereinander (Kapitel 3), sexuelle Verdorbenheit (Kapitel 5 und 6), Alkoholprobleme (Kapitel 10 und 11) und Unsensibilität und Unhöflichkeit den Geschwistern gegenüber (Kapitel 11) deuten auf eine egoistische Grundhaltung hin.
Da die Christen in Korinth so egoistisch gesinnt waren, hatten sie sich natürlich auch in erster Linie auf die Zungenrede spezialisiert, denn „wer in Zungen redet, erbaut sich selbst“. Diese Haltung machte ein ganzes Kapitel notwendig (Kapitel 14), in dem Paulus versucht hat, ordnend einzugreifen, ohne die Freiheit im Geist beschneiden zu wollen.
Die Gnaden- bzw. Geistesgaben sollen in erster Linie zur geistlichen Erbauung und zum Nutzen der Gemeinde dienen (1. Korinther 12,7; 14,3,4,12,26). Interessanterweise werden am Ende des Kapitels 12 einige der neun Geistesgaben mit anderen Befähigungen zusammengebracht: „Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede.“ (1. Korinther 12,28).
Von dem Dienst der Apostel, Propheten etc. lernen wir in Epheser 4,11-16 (Hervorhebungen durch den Autor): „Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe.“
Ämter und Geistesgaben dienen also kurz zusammengefasst dazu:
die Christen zum Werk des Dienstes zuzurüsten
Erbauung des Leibes Christi
Einheit des Glaubens
Erkenntnis des Sohnes Gottes
geistlicher Reife und Festigkeit.
Das griechische Wort OIKODOME, „Erbauung“ (1. Korinther 12,7; 14,3,4,5,12,26), bedeutet ganz einfach, ein Haus bauen. Dieses Bauen hat nicht in erster Linie etwas mit Gefühlen oder Emotionen zu tun, sondern bezieht sich auf das ganz konkrete, konstruktive Errichten eines Tempels für Gottes Gegenwart in mir. Zum Bauen braucht man Werkzeuge, Materialien, Arbeiter und einen Bauplatz. Ich glaube, dass die Gaben nach 1. Korinther 12 wichtige Werkzeuge darstellen, die zur Errichtung eines Tempels für Gott unerlässlich sind. Beim Hausbau wird man auch normalerweise immer Fortschritt feststellen können. Räume werden nach und nach fertig, die Sache wird immer wohnlicher. Dabei möchte Gott uns helfen und hat uns deswegen diese wunderbaren Gaben zur Verfügung gestellt. Es liegt an uns, sie zu suchen, zu empfangen und zu benutzen!
Alle diese Dinge hat jede Kirche mehr als notwendig, und angesichts dieses Potentials kann man verstehen, warum Paulus wiederholt ermutigt, sich „mit brennendem Eifer“ um diese Gaben zu bemühen. Wie immer stehen allerdings die Motivation und Herzenshaltung im Vordergrund, denn die Gaben aus egoistischen Beweggründen heraus haben zu wollen ist nicht im Sinne der Bibel. Deswegen hat der Heilige Geist auch zwischen den Kapiteln 12 und 14 über die Gnadengaben das Kapitel über die Liebe „geschaltet“.
Die Liebe ist nicht die größte oder größere Geistesgabe, wie man 1. Korinther 12,31 falsch verstehen könnte. Der Satz: „Und ich will euch einen noch besseren Weg zeigen“, kann vom griechischen her auch mit „ich will euch diesen Weg noch besser zeigen“ übersetzt werden. Hier entscheidet beim Übersetzer leider die theologische Präferenz, und bekanntlich waren die Reformatoren und Luther nicht sehr charismatisch gesinnt.
Unsere Messlatte ist die Frucht des Geistes, bei der man sich übrigens nicht bestimmte Aspekte herauspicken kann. Es ist eine Frucht, ein Charakter, der alle diese Aspekte ausleben darf. Bei den Gaben ist eine Auswahl möglich, nicht so bei der Frucht. Wir sollen an unserer Frucht erkannt werden, nicht an unseren Gaben (Matthäus 7,16-17). Leider ist es möglich, Gaben einzusetzen, ohne dass sie aus der Liebe entstehen. Gott wird dies richten (Matthäus 7,21-23, Philipper 1,15-17, 1. Korinther 3,12-15)! Gott wird aber, gemäß der Gleichnisse der Talente, von allen, die Gaben und Talente erhalten haben, Rechenschaft für deren Einsatz fordern.