In Platons Dialog Kratylos geht es um die Frage, warum die Dinge so heißen, wie sie heißen, warum bspw. der Baum "Baum", die Sonne "Sonne" oder der Mann "Mann" heißt. Sokrates untersucht diese Frage zusammen mit seinem Schüler Hermogenes und diskutiert sein Ergebnis anschließend mit dem Sprachexperten Kratylos. Sokrates weist argumentativ nach, dass sich der Name eines Dinges, der in der Buchstabenfolge, d.h. in der Bezeichnung zum Ausdruck kommt, von dem jeweils benannten Ding herleitet. Die Bezeichnung mache eine Aussage über das Ding. Die Wörter seien also motiviert, was Sokrates an zahlreichen Beispielen demonstriert. Die anschließende Diskussion mit Kratylos zeigt, dass dieser dem von Sokrates argumentativ hergeleiteten motivativen Wortkonzept zustimmt, dass er aber bezüglich der Zahl und Anordnung der Buchstaben im Wort eine strengere Variante vertritt. Für Kratylos sind die Buchstaben im Wort nach grammatischen Regeln angeordnet. Kein Buchstabe dürfe vertauscht, herausgenommen oder hinzugefügt werden. Jeder Buchstabe trage mit seiner Bedeutung zur Charakterisierung des bezeichneten Dinges bei.
Trotz der klaren Fragestellung werden Platon durchweg andere Absichten unterstellt. Aus einer Analyse von Derbolav, der von den über 200 Interpretationen zu diesem Dialog mehr als 190 untersucht hat, ergibt sich, dass zwischen den Interpreten "ziemliche Einhelligkeit" darin bestehe, dass es sich beim "Kratylos" um eine Persiflage fremder Lehrmeinungen und Methodekritiken" handelt. Anderen Interpreten zufolge würde Platon in diesem Werk die "Etymologisierungspraxis" jener Zeit ironisieren. Für Derbolav selbst handelt Platon philosophische Kategorien entlang einer sprachtheoretischen Fragestellung ab. Rijlaarsdam kommt in seinem "Kommentar zum Kratylos" zum Ergebnis, das Platon ein Meisterwerk der Hebammenkunst vorlege mit absichtlicher Verschleierung, um die Schüler zum eigenständigen Denken zu bewegen. Platon erreiche seinen Zweck durch scheinbare Täuschungen, die sich dahingehend auswirkten, dass am Schluss des Gesprächs zwischen Sokrates und Kratylos der Leser jeden Halt verloren habe. Erler bezeichnet den Dialog als eines der schwierigsten Werke Platons. C. Schaarschmidt hält den Dialog sogar für eine Fälschung. Für Kurt Olbrich geht es in diesem Dialog zentral um die Frage der Motivation der Wörter, wie im zentralen Eingangssatz formuliert ist; und dann um die weitere Frage, warum über die Buchstaben der Bezeichnungen eine Aussage über die Dinge zustande kommen kann. Diese Frage führt zum Ursprung und damit zu der ersten Wörtern bzw. zu den Urwörtern der Sprache.
Aktualisiert: 2020-11-20
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Die Bedeutung der Wortgruppe Eulabeia (eulabes, eulabeisthai, exeulabeisthai und dieulabeisthai) durchlief innerhalb der klassischen griechischen Literatur – beginnend im 5. Jh. v. Chr. bis in die Zeit des 1. Jh. n. Chr. – eine erkennbare Veränderung in ihrer Vielfalt und Verwendung. Während sich ursprünglich die lexikalische Semantik im eher äußerlichen Bereich der (scheuen) Vorsicht (he pros/peri to theion eulabeia) und Achtsamkeit (phülake, phülattesthai) bewegte, ist in der Literatur des 1. Jh. n. Chr. – die Werke Epiktets sind hierfür beispielhaft – eine augenscheinliche Erweiterung zu erkennen. Diese Entwicklung zeigt sich insbesondere darin, dass aus der ehemals äußeren immer mehr eine innere Haltung der Furcht (phobos, phobeisthai) und religiösen Scheu (aidoos, aideisthai) wurde, um einer Gefährdung der Seele und damit einer Gefahr für deren Zustand zu entgehen. Der eigentliche Prozess der Bedeutungsverschiebung wiederum verlief nicht abrupt, sondern stetig fortschreitend und nahm wohl bereits recht früh in der griechischen Literatur seinen Anfang. Boris Hogenmüller geht der Frage nach, inwieweit das Einsetzen einer solchen Bedeutungsverschiebung bereits im 4. Jh. v. Chr. in den Werken Platons wie auch in den Schriften der Appendix Platonica erkenn- und nachweisbar ist.
Aktualisiert: 2023-04-04
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