Briefwechsel 1908-1938

Briefwechsel 1908-1938 von Binswanger,  Ludwig, Fichtner,  Gerhard, Freud,  Sigmund
Ludwig Binswanger (1881-1966), Freuds Briefpartner in der vorliegenden Korrespondenz, entstammte einer bedeutenden Schweizer Psychiater-Dynastie, die schon seit Generationen das international renommierte Sanatorium »Bellevue« in Kreuzungen leitete. In dieser psychiatrischen Privat-klinik hatten bereits Großvater und Vater progressive Methoden der Therapie psychisch Kranker eingerührt; auch »Anna 0.«, die Urpatientin der Psychoanalyse, war einmal hier behandelt worden. Um sich nach Ende seines Studiums auf die Übernahme der Familienklinik vorzubereiten, absolvier-te der junge Ludwig Binswanger 1907 ein Assistenzjahr am Züricher »Burghölzli« unter der Obhut Eugen Bleulers und C. G. Jungs; beide Universitätslehrer gehörten zu den ersten, die Freuds revolutionäre Funde erkannt und aufgegriffen hatten.Jung war es auch, der im selben Jahr Binswanger nach Wien zu seinem ersten Besuch bei Freud mitnahm. Im Gegensatz zur stürmischen und tragisch endenden Beziehung mit Jung entstand aus der ersten Begegnung zwischen Freud und Binswanger eine sich langsam entfaltende lebenslange Freundschaft. Ohne Zweifel erhoffte sich Freud von Binswanger vor allem den Brückenschlag von seinem Lebenswerk zur akademischen und zur Anstaltspsychiatrie. Zwar hat Binswanger tatsächlich die psychoanalytische Behandlungstechnik angewandt und in seiner Klinik etabliert. Aber er wurde nie ein Parteigänger der psychoanalytischen Bewegung. In erkenntnistheoretischer und anthropologisch-philosophischer Hinsicht schien ihm Freuds Lehre ergänzungsbedürftig. In Anlehnung insbesondere an die Phänomenologie Husserls, die Hermeneutik Diltheys und die Daseinsanalytik Heideggers bemühte sich Binswanger darum, die Psychoanalyse auf ein philosophisches Fundament zu stellen, und entwickelte schließ-lich eine eigene psychotherapeutische Richtung, die sogenannte »Daseinsanalyse«.Freud, der zu Beginn der Freundschaft schon in der Reife der Lebensmitte stand, begleitete die Verselbständigung des viel Jüngeren mit väterlicher Aufmerksamkeit, respektvoller Toleranz, zuweilen freundlicher Skepsis und Kritik. An Binswanger gefielen ihm wohl insbesondere dessen Gelehrsamkeit und Takt: »Ganz abweichend von so vielen anderen haben Sie nicht zugelassen, daß Ihre intellektuelle Entwicklung, die Sie meinem Einfluß immer mehr entrückte, auch unsere persönlichen Beziehungen zerstöre, und Sie wissen nicht, wie sehr eine solche Feinheit dem Menschen wohltut.« Absichtslos, weil ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmt, widerlegen diese Briefe also den immer wieder erhobenen Vorwurff, Freud sei intolerant und despotisch gewesen.Doch handelt die Korrespondenz nicht nur von fesselnden theoretischen Auseinandersetzungen über die Beziehung von Psychoanalyse und Philosophie, vom Gedankenaustausch zweier Ärzte, die einander Patienten überweisen, von Rede und Widerrede zweier Autoren, die zum jeweils jüngsten Werk die Stimme des anderen hören wollen, Sie ist auch ein zärtliches menschliches Dokument; denn die Schicksale der Familien - Geburt, Krankheit, Tod, aber auch Reiseerfahrungen - bilden ein anderes, gleichberechtigtes Hauptthema.
Aktualisiert: 2023-06-02
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Münsterlinger Kolloquien

Münsterlinger Kolloquien von Kuhn,  Roland
Die Beschäftigung des Autors mit Kurt Goldsteins Aufbau des Organismus lässt keinen Zweifel daran, dass „das Bild des Organismus als eines Ganzen nicht durch induktive biologische Verallgemeinerung aus einzelnen konkret gegebenen Erscheinungen gewonnen werden kann“. Die Gedanken Goldsteins gewinnen durch eine Neuauflage (Fink 2013) wieder an Aktualität. Goldsteins Arbeiten sind Ausdruck einer neuen Bewegung (Cassirer, Grünbaum, Klages), die zu einem beträchtlichen Teil von jüdischen Autoren getragen und „deren Vertreibung Grund dafür ist, dass die Forschung 1933 in die Brüche ging“. Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Die medizinische Anthropologie von Weizsäckers war und blieb für Kuhn ein Anziehungspunkt. In der intensiven Auseinandersetzung mit dem Gestaltkreis (1969) erkannte er nicht nur tiefgreifende Perspektiven dieses Werkes, er begegnete ihnen auch sehr kritisch, und zwar immer dann, wenn dessen „Begrifflichkeit nicht ins Reine kam“. Ludwig Binswanger: Das Raumproblem in der Psychopathologie. Schon immer zeigt sich Kuhns grosses Interesse an der Frage, was Raumerfahrung überhaupt ermöglicht, die der heutigen Psychiatrie völlig fremd geworden ist. Kuhn gibt in diesem Kurs nicht nur eine Einführung in die Daseinsanalyse, er zeigt auch, was das Raumproblem für die praktische klinische Psychiatrie bedeutet.
Aktualisiert: 2020-12-09
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Briefwechsel 1908-1938

Briefwechsel 1908-1938 von Binswanger,  Ludwig, Fichtner,  Gerhard, Freud,  Sigmund
Ludwig Binswanger (1881-1966), Freuds Briefpartner in der vorliegenden Korrespondenz, entstammte einer bedeutenden Schweizer Psychiater-Dynastie, die schon seit Generationen das international renommierte Sanatorium »Bellevue« in Kreuzungen leitete. In dieser psychiatrischen Privat-klinik hatten bereits Großvater und Vater progressive Methoden der Therapie psychisch Kranker eingerührt; auch »Anna 0.«, die Urpatientin der Psychoanalyse, war einmal hier behandelt worden. Um sich nach Ende seines Studiums auf die Übernahme der Familienklinik vorzubereiten, absolvier-te der junge Ludwig Binswanger 1907 ein Assistenzjahr am Züricher »Burghölzli« unter der Obhut Eugen Bleulers und C. G. Jungs; beide Universitätslehrer gehörten zu den ersten, die Freuds revolutionäre Funde erkannt und aufgegriffen hatten.Jung war es auch, der im selben Jahr Binswanger nach Wien zu seinem ersten Besuch bei Freud mitnahm. Im Gegensatz zur stürmischen und tragisch endenden Beziehung mit Jung entstand aus der ersten Begegnung zwischen Freud und Binswanger eine sich langsam entfaltende lebenslange Freundschaft. Ohne Zweifel erhoffte sich Freud von Binswanger vor allem den Brückenschlag von seinem Lebenswerk zur akademischen und zur Anstaltspsychiatrie. Zwar hat Binswanger tatsächlich die psychoanalytische Behandlungstechnik angewandt und in seiner Klinik etabliert. Aber er wurde nie ein Parteigänger der psychoanalytischen Bewegung. In erkenntnistheoretischer und anthropologisch-philosophischer Hinsicht schien ihm Freuds Lehre ergänzungsbedürftig. In Anlehnung insbesondere an die Phänomenologie Husserls, die Hermeneutik Diltheys und die Daseinsanalytik Heideggers bemühte sich Binswanger darum, die Psychoanalyse auf ein philosophisches Fundament zu stellen, und entwickelte schließ-lich eine eigene psychotherapeutische Richtung, die sogenannte »Daseinsanalyse«.Freud, der zu Beginn der Freundschaft schon in der Reife der Lebensmitte stand, begleitete die Verselbständigung des viel Jüngeren mit väterlicher Aufmerksamkeit, respektvoller Toleranz, zuweilen freundlicher Skepsis und Kritik. An Binswanger gefielen ihm wohl insbesondere dessen Gelehrsamkeit und Takt: »Ganz abweichend von so vielen anderen haben Sie nicht zugelassen, daß Ihre intellektuelle Entwicklung, die Sie meinem Einfluß immer mehr entrückte, auch unsere persönlichen Beziehungen zerstöre, und Sie wissen nicht, wie sehr eine solche Feinheit dem Menschen wohltut.« Absichtslos, weil ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmt, widerlegen diese Briefe also den immer wieder erhobenen Vorwurff, Freud sei intolerant und despotisch gewesen.Doch handelt die Korrespondenz nicht nur von fesselnden theoretischen Auseinandersetzungen über die Beziehung von Psychoanalyse und Philosophie, vom Gedankenaustausch zweier Ärzte, die einander Patienten überweisen, von Rede und Widerrede zweier Autoren, die zum jeweils jüngsten Werk die Stimme des anderen hören wollen, Sie ist auch ein zärtliches menschliches Dokument; denn die Schicksale der Familien - Geburt, Krankheit, Tod, aber auch Reiseerfahrungen - bilden ein anderes, gleichberechtigtes Hauptthema.
Aktualisiert: 2023-03-31
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