Zu den Kompositionen
Das Programm besteht aus einer Gegenüberstellung von Orgelwerken der einflussreichen und fast gleichaltrigen Organisten Jacques Boyvin (ca. 1653–1706) und Georg Böhm (1661–1733).
Jacques Boyvin wirkte ab 1674 an der Kathedrale von Rouen, wo Robert Clicquot 1685-92 eine große Orgel baute, die alle Möglichkeiten der Registrierung enthielt, die er 1690 in seinem
Premier livre d'orgue dokumentierte. Michel Chapuis spielt die Suite im ersten Ton aus dem ersten Orgelbuch. Sie enthält die Formen liturgischer Orgelmusik, die im klassisch-französischen Stil klar umrissene Satztypen zeigt und die gleichzeitig die Registrierungen und die Spielweise (Tempo, Artikulation und Ornamentation) dokumentieren. Anstelle des abschließenden Grand Dialogue spielt Michel Chapuis im Grand jeu (mit den Zungen, den beiden Cornets und dem Jeu de tierce) das prächtige Offertoire du Premier Ton von Jean-Francois Dandrieu. Zu den besonders expressiven Werken gehören die Solokompositionen mit dem Zungenregister Cromorne in der Tenorlage, von denen das Cromorne en Taille von Boyvins Zeitgenossen Gilles Jullien zu hören ist. Das Programm in Stapelmoor vermittelt einen Eindruck von den wichtigsten Formen der französischen Orgelmusik in der katholischen Liturgie.
Das Programm in Weener vermittelt dagegen einen Eindruck von der liturgischen Orgelmusik im lutherischen Gottesdienst um 1700. Georg Böhm wirkte ab 1698 in Lüneburg an der Johanniskirche, wo ihm eine große Orgel aus der Renaissance zur Verfügung stand, die in den Jahren 1712–15 im Barockstil unter seiner Leitung umgebaut wurde. Von großer Bedeutung ist seine Rolle als Orgellehrer von Johann Sebastian Bach in den Jahren 1700 bis 1702. Böhm stammte aus Thüringen und kam in Hamburg als Musiker an der Oper und im französisch orientierten Kulturleben am Hof in Celle und an der Ritterakademie in Lüneburg mit dem französischen Stil in engen Kontakt. Er übernahm den französische Ornamentstil und regte den jungen Bach zur Verwendung dieser Ästhetik an.
Die Orgelwerke zu den lutherischen Liedmelodien wurden nicht wie in den Orgelwerken zur katholischen Liturgie immer an den gleichen Stellen eingesetzt, sondern wurden im Zusammenhang mit dem Gemeindegesang als Vorspiele oder Zwischenspiele - wenn die Gemeinde pausierte - gespielt. Deshalb konnten sich nicht so klar definierte Satztypen herausbilden, die immer einer sehr ähnlichen Registrierung zugeordnet werden.
Das Programm in Weener enthält die wichtigsten Satztypen der choralgebundenen Orgelmusik aus Mittel- und Norddeutschland: expressive Solokompositionen, Duos und Trios, ein Plenumwerk mit der Melodie im Pedal und eine kleine Choralfantasie (Versus 2 von Christe, der du bis Tag und Licht). Am Ende steht das mehrteilige Praeludium g-Moll mit einer französisch beeinflussten Fuge, die in einer Registerkombination in der Art des Grand jeu zu hören ist.
Zu den Orgeln
Stapelmoor
Das Projekt einer klassich-französischen Orgel in Stapelmoor wurde von Harald Vogel in seiner Funktion als Orgelsachverständiger der Reformierten Kirche angeregt und geplant. Mehrere glückliche Umstände ermöglichten den Bau der ersten konsequent im klassisch-französischen Stil gebauten Orgel in Deutschland:
Die reformierte (calvinistische) Gemeinde in Stapelmoor benötigte eine neue Orgel und hat mit diesem Projekt eine Verbindung zu den französischen Wurzeln der reformierten Traditionen hergestellt. Das Projekt wurde von dem Pastorenehepaar Manfred und Marianne Gerke entscheidend gefördert. Ausgangspunkt war das in Stapelmoor bestehende Orgelgehäuse aus dem 19. Jahrhundert, das kein ursprüngliches Innenwerk besaß und in einer eindrucksvollen mittelalterlichen Kreuzkirche steht. Eine weitere Voraussetzung war die Übereinstimmung mit den Gehäusemaßen der original erhaltenen Clicquot-Orgel in Houdan.
Als Ausführende konnten von 1994 bis 1997 der französische Orgelbauer Claude Jaccard (Fahy les Autrey) für die Herstellung des Pfeifenwerks sowie die deutschen Orgelbauer Reinalt Klein (damals in Berlin) und Bartelt Immer (Norden in Ostfriesland) gewonnen werden, die eine wegweisende europäische Arbeitsgemeinschaft bildeten. Es gelang ihnen, im Klang und der technischen Anlage dem Charakter der klassich-französischen Orgelkunst so nahe zu kommen, wie es bei keinem anderen Projekt dieser Art in Deutschland gelungen ist.
Die von Louis-Alexandre Clicquot 1734 gebaute Orgel in der Stadtkirche des unweit von Versailles gelegenen Ortes Houdan zeigt die geniale Konstruktion der durchschobenen Lade. Diese Konstruktion, die auch im deutschen Orgelbau des 18. und 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielte, erlaubt eine sehr kompakte Bauweise, wobei das Pfeifenwerk der drei Manuale sehr platzsparend in einem Gehäuse untergebracht werden kann. Der »Trick« besteht darin, dass die Pfeifen vom Grand-orgue und Positif auf einer Windlade stehen. Die Kanzellen der beiden Manale wechseln sich ab und befinden sich unmittelbar, Ton für Ton, nebeneinander. Die durchschobene Lade in Houdan ist in der Mitte geteilt und erlaubt den Durchgang der Traktur zum Récit, das über den Diskantpfeifen von Grand-orgue und Positif steht. So ergibt sich für alle drei Manuale eine einfache hängende Traktur.
Die Disposition in Houdan und Stapelmoor bietet alle Registriermöglichkeiten für das klassisch-französische Repertoire. Die einzige Modifikation in Houdan ist der Ersatz des üblicherweise disponierten Prestant 4' im Positif durch eine Flûte 4', da in der Gehäusefront nur Platz für die Prospektpfeifen vom Montre 8' ist. Um die Möglichkeiten der klassisch-französischen Registrierungen zu vervollständigen, wurde in Stapelmoor zusätzlich hinter den Manualladen eine Windlade für das Pedal gebaut.
Das Konstruktion des angehängten Pedals der Clicquot-Orgel ermöglichte die Anlage einer Pedalkoppel, die im französischen Orgelbau des 17. Jahrhunderts bekannt war - aber später nicht mehr gebaut wurde. Auf diese Weise können in Stapelmoor einige Registrieranweisungen aus dem 17. Jahrhundert (z. B. von Boyvin) realisiert werden.
Für die französische Klangästhetik der Periode um 1700 ist eine modifiziert mitteltönige Stimmung auf der Basis der Temperierung um 1/5 Komma, die in Stapelmoor zu hören ist, sehr wichtig.
Weener
Die Orgel in der reformierten Georgskirche in Weener wurde 1710 von Arp Schnitger und seinem ältesten Sohn Arp d. J. als zweimanualiges Werk mit Hauptwerk und Rückpositiv gebaut. Das ursprünglich fehlende Pedal wurde 1782 von dem ostfriesischen Orgelbauer Johann Friedrich Wenthin an beiden Seiten hinzugefügt. Es handelt sich um ein Werk aus der Spätphase von Schnitgers Orgelbautätigkeit und weist in der Disposition Ähnlichkeit mit dem zehn Jahre zuvor entstandenen Werk in Uithuizen (in der benachbarten niederländischen Provinz Groningen) auf.
Die Orgel stand ursprünglich auf dem Lettner, der das Kirchenschiff vom spätgotischen Chor abtrennte. Bei der Erweiterung in den Jahren vor 1782 wurde eine neue Orgelempore gebaut, die heute noch besteht, ebenso wie die für Ostfriesland typische Position im Osten des Kirchenraums. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das Werk Schnitgers mehrere Male umgebaut, wobei der größte Teil des originalen Pfeifenwerks ersetzt wurde.
Nach der Kirchenrenovierung von 1972 wurde das fehlende Pfeifenwerk nach den Mensuren der Schnitger-Werkstatt rekonstruiert. Die letzte Phase der technischen und klanglichen Wiederherstellung wurde von Jürgen Ahrend ausgeführt, der durch seine Intonationskunst die Orgel in Weener zu den eindrucksvollsten Orgelinstrumenten in Ostfriesland gemacht hat.
Weener und Stapelmoor liegen unmittelbar nebeneinander im Rheiderland am linken Ufer der Ems vor der Einmündung des Flusses in die Meeresbucht des Dollart. In Weener befindet sich das von Harald Vogel gegründete Organeum, das als Zentrum der Orgelkultur in Ostfriesland eine reiche Instrumentensammlung besitzt. Die Orgeln in Weener und Stapelmoor sind wichtige Instrumente der »Europäischen Orgelstraße«, zu der in den benachbarten Orten originale niederländische, englische und italienische Orgeln gehören.
Die Orgelbauerfamilien Clicquot und Schnitger wirkten zeitgleich in jeweils drei Generationen von den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und prägten die Orgelbauszene ihrer Epoche in den nördlichen Teilen Frankreichs und Deutschlands. Der Vergleich dieser Orgelstile ist in den Aufnahmen dieser CD zu hören, die gleichzeitig ein Dokument für die Renaissance der alten Orgelkunst in unserer Zeit ist.
Aktualisiert: 2020-01-23
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