Lina ist weder jung noch schön noch reich. Das Leben hat sie vergessen, wie so viele der ehemaligen Trümmerfrauen, die ihre Jugend zwischen den Kriegen verloren und das Schweigen lernten. Nun wartet sie auf ihren Tod oder den Besuch der Enkelin. Wenn die alte Frau klar ist und gut aufgelegt, versuchen sie zusammen die verstreuten Puzzleteilchen der Geschichte wieder zusammenzusetzen: Linas Vater der während der Räterepublik um eine Haaresbreite der Erschießung entgeht, danach der Ausflug nach Russland, wo die deutschen Siedler vor Hunger Hunde schlachten, zurück nach München Barackenleben, erste Liebe, Flugblattaktionen gegen Hitler, KZ, Lina heiratet den "wehrunwürdigen" Gustav, der russischen Zwangsarbeitern Brot zusteckt. Nach 1949 erste Italienfahrten, Aufschwung. Linas Mann pflegt Kontakte zur DDR und zu einer anderen Frau. Schafft es Lina, die bisher ihre Frau gestanden hat, um die verlorene Liebe zu kämpfen, sich zu emanzipieren?
Buchvorstellung: Wie bleibt Geschichte in der Literatur lebendig, wie wendet man sich gleichzeitig aktuellen Problemstellungen zu. Marie Sophie Michel aus München wagt mit ihrem Romandebüt den Spagat. Ihre ‚Frau ohne Sommer’, ein wirklich gelungener Titel, erlebt die Facetten deutscher, linker Geschichte beinahe unbedarft, so wie die Handelnden selbst. Räterepublik, die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, der Untergang der Arbeiterbewegung im Faschismus, das im Zeichen Stalins stehende Wiedererstarken der Arbeiterbewegung bei Gründung der Bundesrepublik und schließlich das Verschwinden im Gefüge eines Wirtschaftswunders. Weiß Gott keine Verherrlichung der Geschichte der Arbeiterbewegung, die hier vorgenommen wird, vielmehr die klare Sicht über die schlichte, fast ausschließlich emotionale Bindung, mit der ihr Mann und Freunde und auch sie selber der proletarischen Bewegung anhängen. Eine Geschichte der Arbeiterbewegung, die man vielleicht am besten mit Alltagsgeschichte kennzeichnet, glaubwürdig, ohne Verherrlichung. Die ‚Frau ohne Sommer’ erzählt diese Lebenserinnerungen nicht mehr selber, denn sie liegt längst in einem Pflegeheim, besitzt nur Erinnerungsfetzen. Doch ihre Enkelin bewahrt die Geschichte, ordnet und bewertet sie. Ein Platz für die ‚Frau ohne Sommer’ gab es auch in der proletarischen Bewegung für sie nicht. Sie unterlag nicht weniger den kleinbürgerlich-autoritären Vorstellungen der Männer wie die Frau in den anderen Teilen der Gesellschaft, durfte allenfalls noch zusätzlich das Leid und den Schmerz der Verfolgung über sich ergehen lassen. Verlassen von ihrem Mann, der sie über Jahre mit einer anderen Frau betrügt, vegetiert sie ihre letzten Lebensjahre fast völlig von der Außenwelt isoliert. „Nun bleibt nur noch, deine Hand zu halten. Das ganze Leben: Ein Baby im Arm halten, einen Geliebten küssen, einen Freund streicheln, einem Sterbenden die Hand reichen. Wahrscheinlich sind diese Gesten überhaupt das Wesentlichste im Leben.“ Ein Roman, der ergreift, der das Recht von Frauen auf ein menschenwürdiges Leben einklagt, zugleich das Recht älterer Menschen auf eine menschenwürdige Behandlung. Und ein Roman, der Geschichte lebendig hält, gelebte Geschichte, alltäglich Geschichte, die stattgefunden hat und die nur zu gerne vergessen wird. B.Dhün, Oldenburg
Aktualisiert: 2020-03-30
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