Neunzehnhundertfünfzehn

Neunzehnhundertfünfzehn von Beermann,  Erika, Nušić,  Branislav, Scholz,  Bernd E.
Aus dem Vorwort des Heruasgebers Bernd E. Scholz: Am 30. September 1915 fällt Branislav Nušićs einziger Sohn Strahinja im Kampf um Belgrad gegen die Deutschen bei Požarevac. Sein Grab blieb unbekannt. Am 20. Oktober 1915 muss Nušić, seit 1913 Intendant des Nationaltheaters von Skopje (damals zu Serbien gehörig), vor den heranrückenden bulgarischen Truppen mit Teilen der die Zivilbevölkerung begleitenden serbischen Armee mit dem letzten Zug nach Priština (Kosovo) fliehen. Nach einem gefahrvollen, ‘dreiecksartigen’ Leidensweg erreicht der Flüchtlingstreck des Einundfünzigjährigen über Prizren und Djakovica Ende November das wenig Hoffnung verheißende Peć. (Das diplomatische Corps hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf den gefahrloseren Weg über Skadar Richtung albanische Adriaküste begeben, um von dort aus nach Korfu überzusetzen.) Dem großen, in Auflösung befindlichen Treck bleibt von Peć aus als einziger Rettungsweg am 2. Dezember 1915 nur die erneute Flucht durch die winterlichen Schluchten der montenegrinischen Berge über Andrijevica nach Podgorica und Ulcinj. Dem dort einsetzenden Bombenhagel entfliehend, gelingt Nušić schließlich mit dem letzten abgehenden französischen Schiff „Tschad” am 20. Januar 1916 die Rettung ins Exil, bevor die Schergen des militärischen Geheimdienstes Österreichs – des „Evidenzbureaus” – seiner habhaft werden können. Bereits in Ulcinj beginnt er die vierjährige Arbeit an „Neunzehnhundertfünfzehn”, das nach der Rückkehr 1920 nach Belgrad aus dem fast vierjährigen Exil in Frankreich, der Schweiz und Italien auf höchst wundersame Weise 1921 in Wien in einer heute bibliothekarisch nur noch vereinzelt auffindbaren „Edition des Autors” vollständig erscheint. Erneut herausgegeben wird der gesamte Text dann 1931 in zwei Bänden in der 25-bändigen Gesamtausgabe seiner Werke im Verlag seines mutigen und erfolgreichen Belgrader Verlegers Geza Kon (Géza Kohn). Dieser war nach der Einnahme Belgrads durch deutsche, bulgarische und österreichische Truppen Anfang Oktober 1915 in ein Internierungslager am Neusiedlersee (Nežider) verbracht worden. Die in seinem Verlag erschienene Literatur aus dem Englischen, Französischen und Russischen wird 1916 öffentlich in Belgrad verbrannt. — Für die überwältigende Mehrheit aller europäischen Pro-Krieg-Parteien einschließlich seines eigenen Landes sind Nušićs Beobachtungen in „1915” nach dem Ende des 1. Weltkriegs mehr als unzeitgemäß. Auch sie tragen das der europäischen Antikriegsliteratur von ihren erbitterten Gegnern angeheftete ‘Kainsmal’ bis heute. Die Erzählungen seiner Weggefährten auf der Flucht, die er mit ihren eigenen Worten wiedergibt, sind ebensowenig ‘kriegstauglich’ wie die zumeist ausweglosen Schicksale alter wie junger Menschen, reicher und armer, gebildeter und ungebildeter, kurz: „die Tragödien des Volkes”. Trauer und unsägliche Betroffenheit über die unverhältnismäßig hohen serbischen Opfer im 1. Weltkrieg verdecken jede Genugtuung über den schlussendlich errungenen militärischen Sieg. Für deutsche Leser hätte Nušićs „serbisches Golgatha” als Vorausahnung dienen können, wenn sie es denn zur Kenntnis hätten nehmen können. Weist es doch am Beispiel eines kleinen südosteuropäischen Volkes im ersten gesamteuropäischen Krieg des 20. Jahrhunderts prototypisch darauf hin, was den Deutschen später mit Vertreibung, Flucht und massenhaft erzwungenem Sterben im Pandämonium des von ihnen selbst ausgelösten 2. Weltkrieges in vielfach vergrößertem Maßstab widerfahren wird. Für den Schriftsteller Branisalv Nušić ist die Vertreibung ins Exil unlösbar mit der Rettung seines literarischen Werks verbunden. So packt er die für ihn wichtigsten Manuskripte, vor allem das Drama ‘Die verdächtige Person’, auf den Rücken, um damit im Kosovo in einem unüberschaubaren Flüchtlingstreck umher zu irren. In einer gerne übersehenen Notiz zu diesem Stück beschreibt er dieses existentielle Kriegserlebnis: „Doch ab Priština, von wo aus wir zu Fuß in Richtung Prizren weiterziehen mussten, wurde es mir zu beschwerlich, eine solche Last auf dem Rücken zu schleppen. In Priština musste ich daher erneut meine Manuskripte reduzieren, das weniger Wertvolle fortwerfen und nur das mitnehmen, was für mich von besonderer Wichtigkeit war. Während ich so auswählte und all das auf den Boden warf, was ich zu opfern beschlossen hatte, kam die Reihe auch an ‘Die verdächtige Person’. Ich sah das Manuskript durch, kreuz und quer, und – traf schließlich eine Entscheidung. Ich warf es auf den Fußboden, zu der Masse der Manuskripte, die ich opfern wollte, die ich von mir geworfen, die ich auf ewig zum Untergang bestimmt hatte. ‚Fahr dahin, unglückseliges Ding!’ dachte ich, als ich es wegwarf. ‚Ich habe es nicht geschafft, dich auf die Bühne zu bringen, wie sollte ich es da schaffen, dich durch Albanien zu schleppen?’ Und eines Tages brach ich auf, auf dem Rücken ein kleines Paket meiner wertvollsten Manuskripte, während dort in Priština, in dem albanischen Haus, in dem ich gewohnt hatte, meine übrigen Manuskripte zurückblieben, zum Tode verurteilt. Aber in Prizren konnte man nicht bleiben, und bei der Abreise sah ich ein, wie groß die Last noch immer war, die ich bei mir trug, und beschloss, auch diesen Teil meiner Manuskripte zurückzulassen. Doch ich ließ sie nicht verwaist zurück wie jene dort in Priština, auf den Boden geworfen und zum Untergang verurteilt, sondern ich vertraute sie einer Prizrener Serbin an, die sie sorgsam auf dem Dachboden versteckte, unter dem Fußboden. Wir verließen die Heimat und verbrachten drei lange Jahre in der Fremde, und Ende 1918 kehrte ich, gleich nach der Armee, nach Skopje zurück. Wenige Tage später erfuhr ich die traurige Nachricht, dass die Bulgaren in Prizren bei der Durchsuchung der serbischen Häuser nach Waffen jene wertvollen und ausgewählten Manuskripte von mir gefunden hatten, die unter dem Fußboden unter dem Dach versteckt gewesen waren, und sie verbrannt hatten. Während meiner Zeit als Flüchtling war indessen mein Vater gestorben, der in Priština zurückgeblieben war, und sobald das möglich war, fuhr meine Frau nach Priština, um sein Grab zu suchen. Als sie durch die Straßen von Priština ging, traf sie den Albaner, in dessen Haus wir damals Zuflucht gesucht hatten, und der begrüßte sie: ‚Aber gnädige Frau, kommen Sie doch bei mir vorbei. Als Sie von hier weggegangen sind, haben Sie irgendwelche Papiere weggeworfen, und ich habe sie aufgesammelt und aufbewahrt!’ Meine Frau besuchte ihn, nahm das Drama mit und brachte es mir nach Skopje – ‚Die verdächtige Person’.“ – [Aus dem Serbischen von Erika Beermann, nach: Dela Branislava Nušića u 10 knjiga. Beograd 1978, Bd. 4, S. 159 f.] Wir sehen, Nušić schreibt keine im Nachhinein ‘objektiv’ rekonstruierte militärgeschichtliche Erörterung der Rolle Serbiens im 1. Weltkrieg. Er ist aktiv betroffener, Buchstabe für Buchstabe mitleidender Berichterstatter, sein Auge als Erzähler befindet sich im Zentrum des Kriegs-Taifuns, der das Land erfasst hat. Sein wichtigstes erzählerisches Mittel ist daher die ‘oral history’. Die von ihm meisterhaft beherrschte Kunst, die Auswirkungen eines die Zivilbevölkerung immer bedrohlicher erfassenden, immer totaler werdenden modernen Krieges in der Rede einzelner Betroffener immer näher an den Leser heranzuholen, sucht in der europäischen Erinnerungsliteratur unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg ihresgleichen. Deshalb erfordern die 17 von 33 aus dem Gesamtwerk 1978 vom Belgrader Verlag Prosveta ausgewählten Erzählberichte auch weniger den historisch oder geographisch vorgebildeten Leser, sondern eher einen Leser mit Empathie für „Die Stimmen der Völker”, dem bereits ein Johann Gottfried Herder in seinen „Briefen zu Beförderung der Humanität” (1793-1797) „Abscheu gegen den Krieg”, als „Erste Gesinnung” nahegelegt hatte (119. Brief).
Aktualisiert: 2020-08-15
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