Editorial
Verehrte Leserin, verehrter Leser,
kämpfen auch Sie mit den vielfältigen und widersprüchlichen Anforderungen einer leistungsorientierten Welt, deren Credo zufolge man „flexibel“, „strukturiert“, „belastbar“, „effizient“, „den eigenen Marktwert steigernd“ und „virtuell perfekt“ auftreten sollte? Die Wurzeln des neuzeitlichen Arbeitsethos, in dem diese oft überzogenen Anforderungen kulminieren, suchte Max Weber mit seiner Protestantischen Ethik wirkmächtig und zugleich äußerst umstritten in der Radikalisierung der reformatorischen These Luthers, dass Gott dem Menschen unabhängig von erbrachten Leistungen Gnade gewähre. Die Spur dieser These lässt sich durch die Kirchen- und Philosophiegeschichte bis in unseren säkularen Alltag verfolgen. Die Fragen, die sich der große Reformator zum Verhältnis von Leistung und Gnade stellte, lesen sich in die heutige Zeit übersetzt etwa so:
Kann man sich im „Ablasshandel“ durch Geld sein späteres Seelenheil erkaufen? → Kann man durch Geld glücklich werden?
Kann sich der Mensch durch gute Werke vor Gott rechtfertigen? → Muss der Einzelne Leistungen erbringen, um das Recht auf soziale Absicherung durch die Gesellschaft zu erlangen?
Aus Anlass des 500. Jahrestages von Luthers Thesenanschlag hinterfragt das Journal für Religionsphilosophie den Zusammenhang von „Leistung” und „Gnade”. Die Autoren reflektieren wirtschaftsethische Positionen der Konfessionen und Religionen oder verfolgen den Ideengehalt des historischen „Rechtfertigungsstreites“ protestantischer und katholischer Theologen bis in die sozialphilosophischen Debatten um Arbeitsethos, Kapitalismus und Postwachstumsökonomie hinein. Es zeigt sich, dass im „säkularen Rechtfertigungsstreit“ die Begriffe „Anerkennung“ und „Glück“ an die Stelle des Gnadenbegriffs getreten sind. Unverändert geht es aber noch immer darum, ob sich durch Leistung Heilserwartungen rechtfertigen lassen.
Die Rubrik „Themenschwerpunkt“ eröffnet Johannes Preusker mit einem philosophiehistorisch detaillierten Beitrag über die Vorläufer und Nachfolger der Positionen im Rechtfertigungsstreit. Facettenreich zeichnet er die Entwicklung des Gnadenverständnisses vom Gilgamesch-Mythos über das frühe Judentum, über Paulus, Augustinus (und dessen Lehre von der doppelten Prädestination) und das Mittelalter bis zu Luther und Calvin nach, deren Auffassungen Max Weber später in seine Protestantismus-Kapitalismus-These einschließe.
Aus einer Untersuchung der Etymologie und alltagssprachlichen Verwendung des Gnadenbegriffs entwickelt der Theologe Jens Kramer in seinem an Belegstellen reichen Beitrag wesentliche Aspekte von Gnadenverhältnissen: Erstens seien Gnadenverhältnisse hierarchisch strukturiert, zweitens werde Gnade aus Wohlwollen gewährt, und drittens brauche Gnade weder begründet zu werden, noch könne man sie einklagen. Auf dieser Folie untersucht Kramer das biblische Gnadenverständnis an einer Vielfalt von Textstellen. Die Bibel lege nahe, dass Gnade vor allem als Ausdruck der Lust und Freude Gottes an der liebevollen Zuwendung zum Menschen zu verstehen sei. Zudem zeigt Kramer die Gabe-Struktur der Gnade auf, die in den beiden Folgebeiträgen eine entscheidende Rolle spielt und die vorliegende Ausgabe mit dem im Journal Nr. 2 gesetzten Themenschwerpunkt „Gabe, Anerkennung, Alterität“ verbindet.
Martin Hähnel vertieft die Auseinandersetzung um „Leistung und Gnade“, indem er den Verdienst-Begriff als Produkt von erbrachter Leistung und geschenkter Gnade einführt. Dadurch macht er den Schnittpunkt nicht nur von Leistung und Gnade, sondern auch von Tugend und Gabe kenntlich, an dem er klassische Gerechtigkeitstheorien von Thomas von Aquin über Luther und Kant bis zu Rawls diskutiert. Mit Blick auf die heutige Zeit sieht Hähnel eine Maßlosigkeit in der Verhältnisbestimmung von Leistung und Gnade. Die von Weber beschriebene Protestantische Ethik habe durch die Förderung einer Art „Verdienstnihilismus“ möglicherweise zu dieser Maßlosigkeit beigetragen. Im Bemühen um einen Ausgleich müsse sich der Mensch heute fragen lassen, wofür er von Natur aus dankbar sei.
Friedrich Hausen macht den Vergleich eines wenig formalisierten, auf persönlichen Beziehungen aufbauenden Wirtschaftssystems mit einer relativ unpersönlichen, möglichst viele Leistungen quantitativ verrechnenden Ökonomie zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Letzteres System erzeuge eine „Moral des Geldes“, die mit der Antworttheorie der Verpflichtung ein markantes Gegengewicht erhalte. Moralische Ansprüche erwachsen dieser Theorie zufolge in letzter Konsequenz aus der vorgängigen Gabe lebenswichtiger Güter. Pflichtgemäßes moralisches Handeln wird als angemessene und erwartete Antwort auf diese Gabe verstanden, durch die der Einzelne sich in seiner Gegenwart, Freiheit und Würde erfahre. Die Gemeinschaft der vorgängigen Geber könne gemäß einer theonomen Ethik auch bis zu einem göttlichen Wesen zurückverfolgt werden.
Eine äußerst originelle Verbindung von Religion und Wirtschaft wird von Regula Zwahlen referiert, die sich mit Sergij Bulgakov auseinandersetzt (dessen erstmals in deutscher Sprache erschienene Philosophie der Wirtschaft in diesem Journal von Martin Büscher rezensiert wird), einem Autor, dessen Lebensweg ungewohnte Perspektiven verspricht: Der zwischenzeitlich gemäßigte Marxist und spätere orthodoxe Priester sah zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der von Weber beschriebenen innerweltlichen Askese die Chance zur Überwindung der „Weltindifferenz“ des orthodoxen Christentums, das aufgrund seiner Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Arbeit ein Abbild göttlicher Schöpfung erkennen müsse. So verstanden sei Leistung nicht Bedingung für die Erlösung des Einzelnen, sondern Berufung. Bulgakov vermeide in seiner Vision einer orthodoxen Wirtschaftsethik somit nicht nur die Beförderung eines egoistischen Kapitalismus, sondern auch die Unterstützung eines die Person in ihrer Gottebenbildlichkeit missachtenden Sozialismus.
Auch Ruud Welten rezipiert mit Michel Henry einen Autor, der in der kritischen Auseinandersetzung mit Marx zu einem Wirtschaftsverständnis abseits der gängigen Alternativen Sozialismus und Kapitalismus gelangt. Dem französischen Phänomenologen sei es gelungen, „Arbeit“ weder quantitativ noch vergegenständlicht zu beschreiben, sondern über den Begriff der „reinen Arbeit” als lebendige Selbsterfahrung des Menschen und somit – aus christlicher Sicht – als leibliche Erfahrung der Inkarnation göttlicher Gnade. Im Ergebnis zeigen sich bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen diesem Arbeitsbegriff eines Bezugsautors der westlich-katholischen Philosophie und der im vorherigen Beitrag diskutierten östlich-orthodoxen Arbeitsbestimmung Bulgakovs.
Die Theologin Margot Käßmann stellt als engagiert-wortgewandte Vertreterin der Evangelischen Kirche Deutschlands im Interview die wirtschaftsethischen Überzeugungen ihrer Kirche in den Zusammenhang mit den Wurzeln protestantischer Glaubensüberzeugungen in der Reformation. Mit ihrer Wertschätzung von Musik, Ritualen, Spiritualität und Kontemplativität macht sie zugleich deutlich, welche Grenzen die lutherische Glaubenspraxis dem neuzeitlichen Arbeitsethos setzt.
Der ausgewiesene Weber-Spezialist Dirk Kaesler vertritt anschließend eine differenzierte Sichtweise auf Max Webers Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus und arbeitet die Stärke der Weber-These als Großer Erzählung heraus, wodurch sich sowohl ihre „Unwiderlegbarkeit“ als auch die berechtigte Kritik an der mangelnden Wissenschaftlichkeit Webers erklären lassen. Kaeslers Einschätzungen werden durch die Vielfalt der Weber-Rezeption der Autoren dieses Journals bestätigt. Während Weber in einigen Artikeln deutlich kritisiert wird (z. B. Preusker: „antikatholisch“, Nassery: „verkürzte Darstellung des Islam“), zeigt sich bei anderen (z. B. bei Zwahlen) die Produktivität der Weber-These in der Ideengeschichte.
Die folgende Rubrik „Impulse“ versammelt Beiträge aus verschiedenen Feldern und Disziplinen, die für die religionsphilosophische Debatte reizvolle und bedeutsame Anstöße und Bezugspunkte darstellen. Abseits der Reflexionen über Wirtschaft diskutiert Julia Schimming den Nexus von „Leistung“ und „Gnade“ anschaulich in Bezug auf den Umgang mit Schuld. Im Rückgriff auf die Lebensgeschichten von Stasi-Spitzeln aus den Dokumentarfilmen Vaterlandsverräter und Anderson macht sie die Bedingungen und Herausforderungen wirklicher Vergebung deutlich.
Im folgenden Beitrag machen Anne Kemper und Sabine Schmidt bei gängigen Untersuchungen zur „Arbeitswelt“ teils eine starke Einschränkung auf Effizienzorientierung und teils eine Fixierung auf Kapitalismuskritik aus. Ihre eigene praxisgesättigte Untersuchung der Arbeitswelt-typischen Phänomene Reorganisation, Zusammenarbeit und „Gut-dastehen-Wollen“ bemüht sich daher um eine vielfältige Perspektive auf individueller, sozialer und struktureller Ebene.
Der Beitrag Idris Nasserys zur muslimischen Wirtschaftsethik bietet die große Chance, nicht nur – wie so oft in diesen Tagen – über den Islam, sondern mit einem islamischen Wissenschaftler zu diskutieren. Nassery argumentiert gegen Max Webers Reduktion des Islams auf eine „Kriegerreligion“ mit einem starren Rechtssystem und zieht Webers Behauptung eines engen Zusammenhangs zwischen der Religion und der wirtschaftlichen Rückständigkeit der islamisch geprägten Länder in Zweifel.
In eine ähnliche Richtung arbeiten die Psychologen Stefan Scherbaum und Maja Dschemuchadse, jedoch mit ganz anderem Ergebnis. Sie beziehen sich auf eine kognitionspsychologische Studie, der zufolge calvinistische Niederländer eine stärkere Zielorientierung und Selbstvergewisserung aufweisen als katholische Italiener oder Atheisten. Die Besonderheiten der kognitiven Prozesse der Probanden werden von den Autoren über ein systemtheoretisches Ebenen-Modell in einen Zusammenhang mit der (Ethik der) jeweiligen Gruppe von Menschen gleicher Weltanschauung gebracht.
Der Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt richtet abschließend den Blick auf notwendige ökonomische Veränderungen angesichts des Klimawandels, für den er mit Max Weber das von Gnadenerwartungen beförderte kapitalistische Wachstumsparadigma als Grund anführt. Eine Veränderung der Glückserwartungen hin zu einer Moral des „weniger ist mehr“ hält Ekardt für nicht realistisch, da er das in der Befriedigung des Bedürfnisses nach Mehr enthaltene Glücksversprechen als anthropologische Konstante ansieht. Die angestrebte Postwachstumsgesellschaft müsse daher v. a. durch institutionelle Maßnahmen verwirklicht werden.
An dieser Stelle wird die Brisanz der philosophischen Auseinandersetzung mit „Leistung und Gnade“ besonders deutlich: Ein geringerer Ressourcenverbrauch hinge auch von einer Relativierung der mit dem Weber’schen „Geist des Kapitalismus“ verbundenen Wachstums- und Konkurrenzorientierung ab, die einer nachhaltigeren und friedlicheren Welt entgegensteht. Wenn also Leistungsansprüche unter dem Einfluss veränderter kulturell-religiöser Gnaden- bzw. Glückserwartungen mehrheitlich anders beurteilt werden könnten, dürften sich die Bedingungen für eine nachhaltigere Wirtschaft verbessern.
Kunst und Kultur, Buchbesprechungen: Der in den Beiträgen reflektierte und ausgefochtene „Rechtfertigungsstreit“ um das richtige Verhältnis von Leistung und Gnade bzw. Glück wird durch Film-Stills aus Carmen Losmanns „Work hard, play hard“ veranschaulicht. Aus diesen Bildern sprechen die funktionalen Annehmlichkeiten einer modernen Arbeitswelt mit ihren sorgfältig gestalteten, luftigen Räumen, aber auch der Leistungsdruck, der Selbstvermarktungsanspruch und die Einsamkeit des arbeitenden Subjekts, das vor dem Tribunal des unpersönlichen Marktes auf Gnade hofft und längst nirgendwo mehr Zuflucht vor der göttlich anmutenden Immaterialität einer orts- und zeitungebundenen Arbeit findet. Diese Situation wird von Beatrix Kersten im Beitrag „Autopoiesis“ u. a. mit den eingangs dieses Editorials zitierten Begriffen lyrisch in Worte gefasst. Eine andere poetische Perspektive eröffnen dagegen die vom Religionsphilosophen Romano Guardini inspirierten Gedichte von Alexandra Grüttner-Wilke.
Einige der diesjährigen Rezensionen beziehen sich direkt auf das Schwerpunktthema, andere Buchbesprechungen bewegen sich im weiteren Umfeld der Religionsphilosophie: Hanna-Barbara Gerl-
Falkovitz befasst sich mit Harald Seuberts eindrucksvollem Hauptwerk „Zwischen Religion und Vernunft“; Albrecht Voigt beschäftigt sich mit Volker Gerhardts „Der Sinn des Sinns“ betiteltem „Versuch über das Göttliche“; von Martin Büscher stammt die Rezension zu Sergij Bulgakovs „Philosophie der Wirtschaft“ und Dirk Uffelmann bespricht Steffen Hubers „Einführung in die polnische Sozialphilosophie“.
Last but not least wagt Anna Maria Martini mit dem beiliegenden Poster einen markanten Überblick über die zwischen den Religionen und Konfessionen sehr verschiedenen Auffassungen über den Zusammenhang von „Leistung“ und „Gnade“ und die daraus resultierenden wirtschaftsethischen Positionen.
Die Vielfalt und Diversität der Beiträge macht deutlich, dass „Leistung“ und „Gnade“ weder Alternativen noch Pole sind. Sie stehen unabhängig von weltanschaulichen Orientierungen in einem Spannungsfeld. Während „Gnade“ von Religionswissenschaftlern untersucht wird, arbeiten sich am Begriff „Leistung“ gewöhnlich eher Sozialwissenschaftler ab. Die produktive Verknüpfung beider Begriffe unter religionsphilosophischen Auspizien gibt einem Verständnis von Religionsphilosophie Ausdruck, wonach Glaubensüberzeugungen als nachhaltig wirksame, kulturprägende Antworten auf die großen Sinnfragen aufzuspüren und weiterzudenken sind. Religionsphilosophie ist dann weniger ein „Nebenerwerb“ von Theologen als vielmehr eine zentrale Aufgabe der Kulturphilosophie.
Egal, welche Arbeit letztlich auf Sie wartet: Wir wünschen Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, in mußevollen Stunden eine inspirierende Lektüre!
Enrico Sperfeld