Philosophie Magazin Sonderausgabe „Hegel“
Wie viel Knecht steckt in mir? Bin ich nur mit anderen frei? Wie erkenne ich das Wahre?
Anne-Sophie Moureau
Hegel war überzeugt, dass die Freiheit des Einzelnen sich niemals losgelöst oder gar in Konkurrenz zur Gesellschaft verstehen lässt. Wirklich frei, so versuchte er zu zeigen, werden wir erst mit und durch die anderen. „Bei-sich-selbst-Sein im Anderen“ lautete in seinen Worten das ambitionierte Ansinnen seiner Philosophie.
Folgt man ihm in diesem Gedanken, dann eröffnen sich neue Perspektiven auf heutige Probleme, für die eine Politik, die vom Einzelnen ausgeht, keine Antwort zu bieten scheint. Anstatt eine starke Klimapolitik, Umverteilung oder Coronamaßnahmen primär als Bedrohung der individuellen Freiheit zu sehen, könnte man – ausgehend von der Annahme, dass Freiheit unweigerlich sozial ist – fragen: Welche Institutionen bräuchte es, um Selbstbestimmung und Entfaltung auch in Zukunft zu garantieren? Welche sozialen Beziehungen würden es uns ermöglichen, bei uns selbst zu sein?
Ebenso wie wir lebte Hegel in Zeiten großer Umbrüche. Als Jugendlicher verfolgte er begeistert die Französische Revolution. Die Philosophie seiner Tage war ebenfalls im Wandel begriffen, die Religion hatte ihre unhinterfragte Vormachtstellung verloren, das Verhältnis von Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft wollte neu gedacht werden. Kein Wunder also, dass sein Anspruch an die Philosophie war, „ihre Zeit in Gedanken“ zu fassen. Anders als oft angenommen, liefert Hegel dabei keine Prognosen, die uns erlauben zu sagen, wie wir von der Gegenwart in die Zukunft schreiten. Aber seine Hinwendung zu Momenten der Krise als Chance – um Neues zu schaffen und Ideale voranzutreiben – könnte heute, da die Zukunft zunehmend düster erscheint, als Inspiration dienen.
Hegel liefert keine leichten Antworten. Anstatt eines Entweder-oder ging es dem Philosophen der Dialektik darum, Widersprüche zusammenzudenken und aufzuheben – freilich ohne jemals alle Spannung einzuebnen. Das Denken bleibt also immer in Bewegung. Gerade in dieser Komplexität und Dynamik liegt der Reiz seiner Philosophie.
Mit Beiträgen von Robert Menasse, Judith Butler, Karl Lauterbach, Thea Dorn, Axel Honneth, Christoph Menke, Slavoj Žižek, u. v. m.