Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur
Barbara Sabel
Gab es im Mittelalter überhaupt Toleranz als Gegenstand der Theologie und Literatur? Und wenn ja, welches sind die Grundlagen mittelalterlichen Toleranzdenkens? Welche dichterischen Darstellungen lassen sich mit Toleranz umschreiben und welcher Art ist diese Toleranz? Dies sind die Ausgangsfragen der vorliegenden Arbeit. Zunächst wird ein über die Epochen hinweg anwendbarer Toleranzbegriff bestimmt, sodann die spezifische Bedeutungsbreite des mittelalterlichen Wortes tolerantia, die Toleranznorm und der „Toleranzraum“ im Mittelalter untersucht. Vor dem Hintergrund der im 12. bis 14. Jahrhundert üblichen Einordnung von Andersgläubigen und Fremden wird dann als zentrales Werk der Willehalm Wolframs von Eschenbach auf das Phänomen „Toleranzdenken“ hin analysiert. Wolfram zeigt nicht nur konkrete Beispiele toleranten Verhaltens auf, sondern er gestaltet ein Konzept von Toleranz und Pluralität. Vor allem die Erzähltechnik des Werkes, Werte, Meinungen und Perspektiven einander entgegenzusetzen, ist ein wichtiges Mittel, ideologische Festlegungen zu erschüttern und einen Raum für toleranteres Denken zu öffnen. Der Willehalm propagiert jedoch keinen religiösen Wertepluralismus. Während ethnische und kulturelle Unterschiede sogar besonders gewürdigt werden, kann die andere Religion nur geduldet oder erlitten werden, keinesfalls gebilligt oder gar anerkannt. Die Untersuchung von dreizehn weiteren mittelhochdeutschen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts sowie der jeweiligen französischen Vorlagen ergibt, daß Wolframs Willehalm zwar nicht das einzige Werk ist, in dem Beispiele von Duldung der fremden Religion vorkommen, daß aber der Roman des Eschenbachers doch ungewöhnlich ist, was die Kritik am Kreuzzugsdenken, die Darstellung der besonderen Achtung vor Andersgläubigen und vor allem das alle Bereiche des Werks umfassende Konzept der Vielheit angeht.In diesem letzten Kapitel wird zudem nach dem Einfluß von Entstehungszeit, Gattung und Dichterpersönlichkeit auf die Heidendarstellung gefragt. Durch die Analyse wird deutlich, daß in mittelalterlichen epischen Werken zwar häufig auf Traditionen intoleranter oder toleranter Heidendarstellung zurückgegriffen wird, letztlich aber für die Darstellung der Beziehung zwischen Christen und Heiden die persönliche Haltung des Dichters maßgebend ist.