Das Wagnis Tradition von Pannewick,  Friederike

Das Wagnis Tradition

Arabische Wege der Theatralität

Was ist „Theater“, gibt es ein eigenes „arabisches“ Theater? Oder hat dieses Medium überall in der Welt dieselbe Bedeutung? Seit den sechziger Jahren wurden diese Fragen in der arabischen Kulturszene heiß diskutiert. Arabische Forscher und Theaterkünstler stellten sich gegen die international anerkannte These, in der arabischen Kultur habe es keine eingeständige Theatertradition gegeben. Man erforschte mittelalterliche Quellen bis hin zu europäischen Reiseberichten und fand eine ganze Reihe von Belegen für arabische Darstellungskünste, die mit dem klassischen europäischen Drama allerdings wenig zu tun haben. Doch sie enthalten Elemente, auf die viele avantgardistische Performancekünstler Europas seit den sechziger Jahren zurückgegriffen haben, um sich vom traditionellen Drama des Bürgertums abzugrenzen.Die Autorin ordnet die Debatte um arabische Theaterformen in den Bereich der Theatralitätsforschung ein. Seit einiger Zeit werden in den Theater- und Kulturwissenschaften neue Kriterien zum Verständnis zeitgenössischer Theaterformen erarbeitet. Theater wird hier als Ereignis gesehen, das zwischen Bühne und Publikum geschieht. Nicht ein literarischer Text steht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Kommunikation zwischen Schauspielern und Zuschauern, das heißt der Prozess der Theatralität.Mit diesen Kriterien lassen sich nicht nur avantgardistische Performances in Europa, sondern ebenso arabische Formen von Theatralität erfassen. In Europa experimentierten Theaterkünstler mit außereuopäischen Performanceformen, mit Ritualen, Tänzen und Maskenspielen; sie wollten damit die Vorgaben des konventionell aristotelischen Dramas ablegen. In der arabischen Welt wurden zunächst europäische Klassiker imitiert und für das arabische Publikum adaptiert. Im Zuge des erstarkenden Anti-Kolonialismus aber strebte man nach einer Distanzierung vom europäischen Drama, das als koloniale Überfremdung empfunden wurde. Seit den sechziger Jahren hat sich eine große Vorliebe entwickelt, mit arabischen Traditionen wie dem Geschichtenerzähler, dem Schattenspiel oder rituellen Darstellungen zu experimentieren und sie mit aktuellen Inhalten zu füllen. So kommt es, dass sich arabische und europäische Performancekünstler sozusagen auf halbem Wege trafen, jeder auf der Suche nach einem zeitgemäßen und publikumsnahen Verständnis von Theater.Doch auch in Singapur, Afrika, Lateinamerika oder China finden wir diese Tendenzen: Elemente aus verschiedenen Zeiten und Kulturen werden synkretisch verbunden und daraus neue, eigenständige Formen entwickelt. In einer globalen Situation zeitgenössischer Kunst hat sich eine künstlerische Sprache gebildet, die nationale der kulturelle Grenzen überwindet. Kultur kann in diesem Zusammenhang nicht mehr als eine in sich geschlossene Einheit verstanden werden, die von anderen solchen Einheiten klar abzugrenzen wäre. In der aktuellen Anthropologie ist seit einiger Zeit ein offener, dialogischer, oder genauer gesagt poly-logischer, Kulturbegriff in der Diskussion. Mit diesem neuen Begriff von Kultur werden wichtige Phänomene in der arabischen Theaterwelt seit den sechziger Jahren erst richtig verständlich. Theater ist ein kultureller Akt, der nicht isoliert zu betrachten ist, sondern in einem Prozess trans-kultureller Interaktionen entstanden und nur aus ihm heraus zu interpretieren ist.

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