Eine glossierte Vulgata aus dem Umkreis Martin Luthers
Untersuchungen zu dem 1519 in Lyon gedruckten Exemplar in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart- Arbeitsgespräch in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vom 20. bis 22. Februar 1997
Martin Brecht, Eberhard Zwink
Erstaunliche Aufmerksamkeit der Medien erregte im November 1995 die Nachricht, in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart sei das lateinische Bibelexemplar gefunden worden, das Martin Luther bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments 1521/22 auf der Wartburg mitbenutzt habe. Schnell meldeten sich jedoch auch Zweifel, ob diese 1519 in Lyon gedruckte und mit handschriftlichen Glossen übersäte Vulgata bei Luthers Bibelübersetzung eine Rolle gespielt haben könnte. Vom 20. bis 22. Februar 1997 fand in Stuttgart ein Arbeitsgespräch über dieses Problem statt, an dem sich zehn in der Paläographie sowie in der Auslegungs- und Übersetzungsgeschichte der Lutherbibel ausgewiesene Experten beteiligten. Wie die literarische Spitzenleistung von Luthers Bibelübersetzung zustande gekommen ist, gibt nach wie vor einige Rätsel auf. Zwischen dem hebräischen bzw. griechischen Grundtext und der deutschen Version nimmt dabei der gebräuchliche lateinische Text eine Brückenfunktion ein. Außergewöhnlich ist, daß eine große Menge der in dem Vulgataexemplar enthaltenen Randbemerkungen sogar bis auf die Satzzeichen und Texteinteilungen mit Luthers Bibelübersetzung übereinstimmen. Dies könnte entweder als eine Vorarbeit zur Übersetzung oder als eine nachträgliche Übernahme der deutschen Textfassung in die dem Glossator durch Liturgie, Unterricht und Lektüre vertraute lateinische Bibel gewesen sein. Eine Entscheidung über die beiden Möglichkeiten ist strittig.