Polarität ohne Steigerung
Eine Struktur des Grotesken im Werk Günter Kunerts (1950-1980)
Werner Trömer
Für die Stasi war er der OV „Benjamin“ (seit 1956/57) bzw. „Zyniker“ (ab 1971/72); und heute weiß er, daß ihn 37 GI/IM bespitzelten: Günter Kunert. Zeitgleich mit Kunerts Arbeit an seiner Autobiographie („Erwachsenenspiele“, Hanser-Verlag) untersuchte W. Trömer dessen Arbeiten im sozialistischen Deutschland (1950-1979). Dabei profitierte er von der großzügigen Unterstützung durch den Autor, der mit Informationen und Hinweisen Hebammendienste leistete, hin und wieder auch Irrtümer korrigierte. Obwohl sich die Untersuchung auf Kunerts DDR-Zeit konzentriert, entdeckt sie eine grundsätzliche Struktur seines Denkens und Schreibens, die sich zwar mit der Zeit entwickelte, aber von Anfang an wirkte. In drei Ansätzen wird, vom Roman „Im Namen der Hüte“, dem Denkbild „Ein Tag“ und der Kurzgeschichte „Die Waage“ ausgehend, immer vor der Folie des lyrischen Werkes, eine Struktur des Grotesken erarbeitet, die an Kafka ebenso erinnert wie an Dürrenmatt, aber trotz aller Ähnlichkeiten mit vielen weiteren Künstlern (auch Kunerts bildnerisches Werk wird berücksichtigt) eine eigene und eigenwillige Weltsicht zeigt: Polarität statt Dialektik, Moral des einzelnen statt gesellschaftlicher Utopie, spiraliges Winden der Geschichte statt teleologischer Entwicklung zu einem Paradies. Vor dem Hintergrund anderer Dichter besser erkennbar, wird die besondere Erzählhaltung Kunerts vorgestellt: „Gleitende Polarität“, Pointenprinzip, Drehtüreffekt – alles Changieren von Perspektiven und Ebenen erweist sich als Vermittlung persönlichster Erfahrungen des Autors, die uns jedoch wie ein Déjà-vu begegnen, weil sie unsere eigenen Ahnungen materialisieren.